Netflix-Serie „Boy Swallows Universe“: Mystischer Optimismus
Drogen, Armut, Gewalt: Elis Leben ist teilweise ziemlich scheiße. Trotzdem ist die Serie „Boy Swallows Universe“ kein Elendsporno.
Der Vater wird vermisst. Der Bruder ist stumm, die Mutter drogenabhängig, der Babysitter ein verurteilter Mörder. Und der Stiefvater dealt mit Heroin. Was zunächst wie die Beschreibung einer gewöhnlichen Folge von „Armes Deutschland“, „Hartz und herzlich“ oder anderem „Elendsporno“ des deutschen Privatfernsehens klingt, ist die Lebensrealität von Eli Bell, dem Protagonisten der neuen Netflix-Mystery-Serie „Boy Swallows Universe“.
Der 12-Jährige wächst Mitte der 1980er Jahre in ärmlichen Verhältnissen in Darra, einem Vorort von Brisbane, auf. Als Elis Stiefvater Lyle sich eines Tages mit dem Drogenkartell anlegt, wird er entführt und seine Mutter landet hinter Gittern. Eli versucht daraufhin, den Fall aufzuklären und beide zu retten.
Die Darstellung von Armut in Filmen und Serien ist eine heikle Angelegenheit. Vor allem, wenn diese – wie „Boy Swallows Universe“ – auf Jugendliche und junge Erwachsene abzielen. Zwar können Medien, besonders die emotionaleren wie Serien und auch Games, die Sicht auf die Welt stärker prägen, als viele Erwachsene glauben möchten. Allerdings beschränken sie sich oft auf Klischees, an denen sich das besser gestellte Publikum ergötzen kann.
Wer sich dem System nicht beugt, ist selbst schuld
Es sind Geschichten, die vor Leid und Schrecken triefen. Unsympathische Charaktere wie Willi und Carola in „Armes Deutschland“, die in dreckigen Wohnungen mit Bier und Zigaretten vor dem Fernseher und mit ihrer Faulheit den Steuerzahler*innen auf der Tasche liegen. Ausgespielt werden sie gegen die Fleißigen, Braven, die sich Tag und Nacht abrackern, um über die Runden zu kommen.
Wer sich dem System nicht beugt, ist selbst schuld. Kaum ein Format hat es in den letzten Jahren geschafft, sich von dieser Botschaft zu distanzieren. Die US-Serie „Shameless“ über den Alltag des alleinerziehenden Vaters Frank Gallagher und seine sechs Kinder versucht es zumindest. Ebenso wie die britische Netflix-Show „Sex Education“, in der zwei Jugendliche ihren Mitschüler*innen gegen Geld Sexratschläge erteilen. Und auch „Boy Swallows Universe“ will mehr bieten als die klischeehafte Schwarz-Weiß-Malerei.
Elis Familie mag zwar kleinkriminell sein, aber ansonsten ist sie ziemlich normal. Der Stiefvater arbeitet neben dem Dealen in einer Prothesenfabrik. Die Mutter kümmert sich um den Haushalt, kocht, sorgt dafür, dass die Kinder ihre Hausaufgaben machen und hilft bei Schulprojekten. Trotzdem meint es das System nicht gut mit ihnen.
Korrupte Polizisten und ein zwielichtiger Fabrikbesitzer
Denn die Politiker und Polizisten (ja, alles Männer) in Derra sind korrupt. Elis Klassenkameraden schikanieren ihn und sein Lehrer schlägt ihn. Der Chefredakteur der Lokalzeitung ist vor allem an der nächsten großen Story interessiert. Und Lyles Chef, der millionenschwere Besitzer der Prothesenfabrik, ist noch zwielichtiger als sie alle zusammen. Eli wendet sich daher lieber an seinen Brieffreund im Gefängnis oder seinen Babysitter Slim, die ihm raten, sich nicht mit den „großen Jungs“ anzulegen. Natürlich hört er nicht auf sie.
Als 2018 das gleichnamige, semiautobiografische Buch erschien, kritisierte die Sydney Review of Books den Autor Trent Dalton dafür, Elis Geschichte zu individualisieren und die Politik komplett auszuklammern. Dalton hatte bereits vor Veröffentlichung in einem Interview angekündigt, dass die Serie diesen Aspekt stärker betonen würde. Und das tut sie.
Doch den blinden Optimismus, den die Sydney Review of Books ihm vorwirft, kann auch die Netflix-Produktion nicht ablegen. Stattdessen kippt die Geschichte ins Unrealistische.
Die Zeit heilt alle Wunden
Und damit sind nicht die Mystery-Elemente gemeint, wie die Zukunftsvisionen von Elis Bruder Gus oder das rote Telefon unter dem Haus der Familie, das klingelt, ohne angeschlossen zu sein. Oder überhaupt die Tatsache, dass ein Kind Verbrechen aufdeckt.
Das Unrealistische liegt darin, wie die Menschen Leid überwinden. Eine Frau verlässt ihren gewalttätigen Freund. Ein Alkoholiker wird dank alkoholfreiem Bier nüchtern. Ein Mann, der wegen seiner Panikattacken jahrzehntelang arbeitsunfähig war, nimmt plötzlich einen Job an. Und eine Drogenabhängige wird durch einen Beatles-Song geheilt.
Die Botschaft ist klar: Das Glück kommt zu denen, die mutig sind. Und: Die Zeit heilt alle Wunden. Man muss nur fest genug daran glauben. Wenn es doch bloß so einfach wäre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos