: Jordaniens rote Linie
Die Vertreibung von Palästinensern wäre eine Kriegserklärung
Von Serena Bilanceri
Nicht nur im Westjordanland herrscht momentan Sorge vor Vertreibung, sondern auch auf der anderen Seite der Grenze. Jordaniens König, Abdullah II., sagte vor wenigen Wochen, die Aussiedlung von Palästinenser*innen nach Jordanien oder Ägypten sei „eine rote Linie“. Jordaniens Außenminister Ayman Safadi ging noch einen Schritt weiter und sprach von einer „Kriegserklärung“.
„Es gibt in Jordanien keinen staatlichen oder nichtstaatlichen Akteur, der willens oder in der Lage wäre, einen Krieg mit Israel anzufangen“, sagt Edmund Ratka, Leiter des jordanischen Auslandsbüros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung.Doch selbst wenn es sich um bloße Rhetorik handelt: Die Gewalteskalation im Nachbarland dürfte der jordanischen Führung schlaflose Nächte bereiten. Mehr als die Hälfte der jordanischen Bevölkerung hat palästinensische Wurzeln, über ein Fünftel besteht aus offiziell anerkannten Geflüchteten aus Gaza und dem Westjordanland. Und das ist zum großen Teil das Ergebnis jener Nakba, die jetzt in den Flugblättern radikaler Siedler im Westjordanland instrumentalisiert wird. Sie drohen Palästinenser*innen darin mit einer erneuten Vertreibung.
Zwei große Flüchtlingswellen aus Palästina gab es in der Geschichte Jordaniens: 1948, als Israel seine Unabhängigkeit erklärte und der Palästinakrieg ausbrach, und später bei dem Sechstagekrieg 1967, der mit einem Präventivschlag Israels begann und mit dem Rückzug Jordaniens aus dem Westjordanland – sowie Ägyptens aus dem Gazastreifen – endete. „Da dachte man, die Palästinenser*innen fliehen vor dem Krieg und kehren dann wieder zurück. Sie sind aber nicht zurückgekehrt“, erläutert Ratka. Das Rückkehrrecht bleibt den damaligen Geflüchteten heute noch verwehrt.
Das hat Folgen für das Königreich auf der Arabischen Halbinsel. Jordanien hat etwas mehr als 11 Millionen Einwohner*innen, mehr als 1 Million Geflüchtete zusätzlich zu den palästinensischen – und wenige natürliche Ressourcen. Kämen noch knapp 3 Millionen Menschen aus dem Westjordanland, geriete vor allem die demografische Balance aus dem Gleichgewicht, sagt Ratka. „Die Transjordanier*innen würden noch mehr in die Minderheitsposition geraten, und für die Palästinenser*innen wäre es das Ende der Hoffnung auf Selbstbestimmung in Palästina. Deswegen sind sich alle einig: Keiner möchte das.“ Noch ist ein Massenexodus jedoch ein weit entferntes Szenario.
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