Halbfinale der Männer-Rugby-WM: Doch noch verbockt
Gegen die „Springboks“ agieren die Engländer im Halbfinale der Rugby-WM lange großartig. Doch Südafrika dreht zum 16:15.
Die Vorzeichen standen wahrlich nicht gut für die Engländer für dieses Halbfinale der Rugby-WM. In der Nacht zuvor hatte es eine deftige Niederlage gegen ebenjene Südafrikaner bei der parallel laufenden Weltmeisterschaft im Cricket gegeben, die Nachricht des Todes von Bobby Charlton war hereingeplatzt, und Catherine, die Ehefrau des britischen Kronprinzen und Schirmherrin des englischen Rugby-Verbandes, saß nicht wie sonst im Stadion, sondern war mit Familie in den Ferienurlaub gereist.
Alles Nebengeräusche, die aber den Ausblick auf diese Rugby-Partie nicht hoffnungsfroher für die Engländer gemacht hatte. Die Südafrikaner würden (in Anspielung auf ihren Spitznamen „Springboks“) die Bockalypse entfesseln, ein zweistelliger Punkteabstand sei wahrscheinlich. Und überhaupt, was hätten diese schwerfälligen und einfallslosen Engländer in diesem Semifinale zu suchen, ließe sich die Mehrheit der Kommentare in Zeitungen und auf Social Media Kanälen grob zusammenfassen.
Was sich dann allerdings auf dem Rasen des Stades de France bei strömenden Regen entwickelte, war ein Rugbyspiel, das an Intensität kaum zu überbieten war. Die Strategie der Engländer war dabei von der ersten Minute an, das Spiel über „Kicks“, also über Penalties und Dropgoals zu entscheiden. Und tatsächlich flogen die „weißen Tornados“, wie der englische Guardian die eigenen Spieler stolz bezeichnete, in jedes Getümmel, bedrängten die Südafrikaner unaufhörlich und nutzten dabei die schwierigen Bedingungen eines nassen Rasens hervorragend.
Die Springboks hingegen schienen nach dem hart erkämpften Viertelfinalsieg gegen Frankreich dermaßen geschwächt, dass sie in den Scharmützeln im Zentrum keinen Zugriff bekamen und so immer wieder Fehler begingen, die der englische Kapitän Owen Farrell mit Penalties bestrafte. Mit einer 12:6-Führung gingen die Red Roses in die Halbzeit und ob ihrer augenscheinlichen Dominanz auf dem Spielfeld sprach wenig dafür, dass sich das Blatt nochmal in Richtung des amtierenden Weltmeisters drehen könnte.
Lücke in der „Weißen Wand“
Noch weniger, als ebenjener Owen Farrell in der 53. Minute ein Dropgoal aus 40 Metern Entfernung verwandelte. Die Revanche der Finalniederlage von Tokio 2019 schien auf einmal nicht mehr nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich. Aber die Rechnung war ohne einen bärtigen Giganten mit dem wunderbaren Namen Rudolph Gerhardus Snyman gemacht. Seine Hereinnahme für den im Viertelfinale gegen Frankreich noch so überragenden Eben Etzebeth in der 46. Minute bezeichnete der englische Reporter Will Greenwood später als „Wechsel des Jahrzehnts“. Der Grund: Beide Mannschaften waren bis etwa zehn Minuten vor Schluss meilenweit davon entfernt gewesen, einen Versuch zu legen. Aber in der 69. Minute konnte RG Snyman doch noch die Lücke in der „weißen Wand“ finden und mit dem einzigen Try des Spiels die bis dahin vollkommen abgemeldeten Springboks zurück in die Partie bringen, als England sich schon auf der Zielgeraden wähnte.
Dabei hatte sich vorher alles wie verkehrte Welt angefühlt. Nach den Viertelfinalpartien zwischen Frankreich und Südafrika sowie Neuseeland und Irland, die von der britischen Presse ob ihrer hohen spielerischen Qualität als „Blitzkriegballett“ und „Rugby aus einer anderen Zeit“ betitelt wurden, war das Spiel zwischen England und Südafrika langsam und ungeordnet, mit einfallslosen und körperlich wenig dominanten Südafrikanern und einer weißen Mauer, die sich für die Boks als solide und unüberwindbar erwies.
„Bittere Niederlage“
Bei Trainer Rassie Erasmus muss sich schon nach einer halben Stunde die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass das Duell so für seine Männer nicht zu gewinnen ist. So wurden nacheinander Cobus Reinach und Damian Willemse und Kapitän Siya Kolisi und eben auch Etzebeth ausgetauscht. Der entscheidende Wechsel war aber schon nach einer halben Stunde vollzogen worden. Für Verbinder Mani Libock war Altstar Handre Pollard gekommen. Und er verwandelte ebenjene Straftritte, die dem Weltmeister die Möglichkeit gaben, in den letzten elf Minuten zehn Punkte zu erzielen und ein Spiel, das England völlig dominiert hatte, auf den Kopf zu stellen. Zwei Minuten vor Ultimo stand es dann auf einmal 16:15 für Südafrika, was auch den Endstand markierte.
Englands Trainer Steve Borthwick ist fest davon überzeugt, dass seine Mannschaft den Schmerz der knappen Halbfinalniederlage gegen Südafrika nutzen wird, um in Zukunft „zu etwas Brillantem heranzuwachsen“. Die Spieler sollten unglaublich stolz sein. „Wir hatten sieben Spieler unter 25 Jahren in unserem Kader, mehr als alle Halbfinalisten. Südafrika hatte einen“, so Borthwick weiter. „Das Team wird aus der bitteren Niederlage von heute lernen können.“
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