US-Ansatz „Housing First“: Vision gegen Obdachlosigkeit?
Bis zum Jahr 2030 will die Bundesregierung Obdachlosigkeit überwinden. Doch der nationale Aktionsplan lässt auf sich warten.
Housing First stellt das in Deutschland bestehende System der Obdachlosenhilfe auf den Kopf. Wie der Name verrät, gilt der Grundsatz: zuerst eine Wohnung. Obdachlose Menschen müssen sich nicht erst als „wohnfähig“ erweisen, sie bekommen bedingungslos eine Wohnung, mit eigenem Mietvertrag. Begleitende Hilfen sind freiwillig. Der erfolgversprechende Ansatz, der in den USA entstand, wird schon in vielen deutschen Städten erprobt.
Vor diesem Hintergrund fand am vergangenen Donnerstag das Fachgespräch „Mit Housing First zum Ziel?“ statt, das die Grüne Bundestagsfraktion organisiert hat. „Deutschland ist vergleichsweise spät dran“, sagte Grünenpolitiker Wolfgang Strengmann-Kuhn. Er sei aber stolz, dass es einen nationalen Aktionsplan geben soll, für den sich die Grünen lange stark gemacht hätten.
Diskussionsgast war unter anderem Christin Weyershausen, Teamleiterin des Berliner Projekts Housing First Frauen. „Allein in diesem Jahr wurden 32 Frauen in Wohnraum gebracht mit dreizehn Kindern“, berichtete sie. Seit 2018 wurden insgesamt 83 Mietverträge abgeschlossen.
Raus aus der Projektphase
Trotz des Erfolgs gäbe es im Alltag verschiedene Hürden. „Man bekommt oft Wohnungen angeboten, die stark renovierungsbedürftig sind“, erklärte Weyershausen. Die Renovierungspauschale der Ämter reiche meist nicht aus. Erst kürzlich sei eine junge Frau mit Kind in eine Wohnung gezogen, in der immer noch kein Boden war. Bislang sei der Verein in solchen Fällen auf Spenden angewiesen.
Julia von Lindern, Vorstand vom Bundesverband Housing First, der sich im September 2022 gegründet hat, forderte, dass man „aus der Projektphase hin in die Verstetigung kommen“ müsse. Es sei vielfach bewiesen, dass Housing First funktioniert, man müsse nun überlegen, wie das unter den deutschen Rahmenbedingungen gut umgesetzt werden kann.
Zentral dafür sei „eine Vereinheitlichung der Regelfinanzierung“. Housing First wird meist über den Paragrafen 67 im Sozialgesetzbuch 12 finanziert. Dort heißt es: „Personen, bei denen besondere Lebensverhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, sind Leistungen zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu erbringen, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind.“ Ländern und Kommunen setzten dies aber unterschiedlich um, kritisiert von Lindern.
Volker Busch-Geertsema von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung ist an der Erarbeitung des Nationalen Aktionsplans beteiligt und hat erste Projekte in Leipzig und Bremen evaluiert. Er beklagt, dass die Hilfe meist zeitlich begrenzt sei: „Das ist nicht so gut vereinbar mit dem, was Housing First vorsieht.“
Kein Konzept für alle
Die dauerhafte Bleibeperspektive für Mieter*innen sei zentral. Für die Träger bedeutet das einen konstanten Bedarf an neuen Wohnungen. Dieses Dilemma könne nur durch politische Maßnahmen wie eine Quotierung oder Belegungsrechte gelöst werden, „sonst steht diese Zielgruppe immer am Ende der Schlange“.
Insgesamt sei Housing First ein wichtiger Schritt „zur Überwindung von Wohnungslosigkeit, aber nicht der einzige“, so Busch-Geertsema. 10 bis 15 Prozent schafften es nicht über diesen Ansatz, es brauche deshalb ergänzende Angebote. Ein weiteres Problem ist: Anspruch auf Housing First haben nur Menschen, die auch Anspruch auf Sozialleistungen haben. Das trifft auf viele obdachlose EU-Bürger*innen nicht zu.
Wann genau mit dem nationalen Aktionsplan zur Überwindung der Wohnungslosigkeit zu rechnen ist, ist unklar. Er war für dieses Jahr angekündigt, doch nun heißt es auf taz-Nachfrage aus dem Bundesbauministerium, er werde erst im ersten Quartal 2024 ins Kabinett kommen. „In den Gesprächen mit der Zivilgesellschaft, mit der Wohnungswirtschaft und mit den Ländern wurde der Wunsch geäußert, mehr Zeit für die Entwicklung des Aktionsplan einzuräumen“, erklärte eine Ministeriumssprecherin.
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