Bücher über Klassengesellschaft: Eine Frage der Klasse

Während die Existenz von Klassen gerne bestritten wird, boomt die Literatur über Klassismus. Kann man von Klassen sprechen, ohne sie ernst zu nehmen?

Wer heute von Klasse spricht, meint oft nur kulturelles Kapital Foto: Thomas Banneyer

Noch immer boomt das Klassismus­thema auf dem Buchmarkt. Es war Didier Eribons Sozioanalyse „Rückkehr nach Reims“, die 2016 überraschend den Hype um den Klassismus auslöste. Die deutsche Ausgabe ist nun in die 21. Auflage gegangen. Bald erscheint sein neues Buch über seine Mutter auf Deutsch. Seit Eribon sind die autobiografischen und autoethnografischen Berichte über Herkunft, Scham und Aufstieg so zahlreich geworden, dass Kri­ti­ke­r längst von der Rückkehr der sozialen Frage sprechen.

Soziale Frage – das ist ein großer Begriff. Aber ist er auch so groß gemeint? Solche Einordnungen gehen schnell über die Lippen, doch in den vielen Herkunft-und-Scham-Erzählungen geht es viel eher um Anerkennung als ums große Ganze. Und damit eher um individuelle Chancen innerhalb bestehender Grenzen. Der Klassenaufstieg ist kulturell und vielleicht sogar habituell gemeistert, und trotzdem hängt man fest in paternalistischen Strukturen oder prekären Ökonomien.

Und jene, die nicht mal von Anerkennung träumen und erzählen, die kein kulturelles Kapital besitzen? Was ist mit denen? Ist sie am Ende vielleicht doch gar nicht so präsent, die soziale Frage?

Nicht in ihrem umfassenden Sinne jedenfalls. Denn die soziale Frage, wie sie mit der Industrialisierung aufkam, implizierte die Analyse der Klassenstruktur und zielte auf politische Veränderung. Jenen, die sie in den Fokus ihrer theoretischen Überlegungen stellten, war klar, dass das individuelle Leben nicht unabhängig von Klassenprozessen stattfindet.

„Warum Klasse zählt“

Offenkundig ist, dass während im Feuilleton lapidar von einer (eingeschrumpften) sozialen Frage und abstrakt von Klassen die Rede ist, der Großteil der Soziologie den Klassenbegriff als nicht zeitgemäß meidet und lieber von Schichten und Milieus spricht. Oder von Lebensstilen. Ist das also eine doppelte Entsorgung der Klasse? Fest steht, unsere kapitalistisch organisierten Gesellschaften sind freilich noch immer Klassengesellschaften, wenn auch in anderer Zusammensetzung als im 19. Jahrhundert, klar.

„Warum Klasse zählt“, kann man sich aktuell in dem gleichnamigen Aufsatz des Soziologen Erik Olin Wright (1947–2019) aus dem Jahr 2009 erklären lassen. Er ist mit einem Nachwort von Oliver Nachtwey („Gekränkte Freiheit“) gerade im Suhrkamp Verlag erschienen. Dass Ressourcen, Güter, Privilegien und Posi­tio­nen nicht zufällig verteilt, sondern „ein systematisches Muster“ aufweisen, so Nachtwey, „das ist der Kern dessen, was man eine Klassengesellschaft nennt“.

Oder: Es gibt eine strukturelle Beziehung zwischen oben und unten. Das ist die Minimaldefinition von Klassengesellschaft und eine Tatsache, die kaum zu leugnen ist. Oder glaubt da draußen tatsächlich jemand, dass das Leben der Einzelnen einzig von individueller Leistung abhängt?

Wright kommt aus der Schule des analytischen Marxismus, aber man muss nicht Mar­xis­t:in (dieser Prägung) sein, um seiner Theorie etwas abzugewinnen. Er verbindet drei unterschiedliche Ansätze der Klassenanalyse miteinander, um zu einem Modell zu gelangen, das ihm erlaubt, sowohl die Mikro- als auch die Makroaspekte sozialer Ungleichheit für klassenrelevante Prozesse zu berücksichtigen. Race und Gender fließen als konstitutive Aspekte ebenso ein wie Konflikte um Verteilung.

Keine neue Klasse

Die Mittelklassen (Vorgesetze, kleine Arbeitgeber, Angestellte mit relativer Autonomie) fasst er nicht als eigene Klasse, sondern als „widersprüchliche Klassenlagen“ aus sich stets neu zusammensetzenden Klassenallianzen!

Diese Sichtweise zeigt sehr gut, wie ungenau doch die Figur des Arbeiters bei Eribon ist, wo die Arbeiter aus der Zeit des Industriekapitalismus als Phantom in der Gegenwart erscheinen und über die man nicht viel mehr erfährt, als dass sie früher links wählten und heute rechts. Wrights Ansatz führt da schon weiter.

Nachtwey weist darauf hin, dass, wo die Mittelklassen Erfahrungen von Entwertung machen, sie „offen für andere Bündnisse“ sind: „Diese Bündnisse müssen aber nicht zwangsläufig mit Bewegungen der sozialen Gerechtigkeit stattfinden, sondern können auch im Wohlstandschauvinismus münden.“

Wohl wahr. Man schaue sich bloß die Merz’schen Mittelklassen in der Asyldebatte an.

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Redakteurin für das Politische Buch und Diskurs in der Kultur. Jurorin des Deutschen Sachbuchpreises 2020-2022 sowie der monatlichen Sachbuch-Bestenliste von ZEIT, ZDF und Deutschlandradio. Lehraufträge in Kulturwissenschaften und Philosophie. Von 2012 bis 2018 Mitglied im Vorstand der taz. Moderiert (theorie-)politische Veranstaltungen. Bevor sie zur taz kam: Studium der Gesellschaftswissenschaften, Philosophie und Psychoanalyse in Frankfurt/Main; Redakteurin und Lektorin in Wien.

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