Berliner Musikfestival Atonal: Die kalte Rache der Motorsäge
Gegensätzlich und herausfordernd gut sind die ersten Konzerte und Performances. „Berlin Atonal“ läuft erstmals seit Jahren wieder als Festival.
Den Anfang machte die US-Elektronikproduzentin Laurel Halo. Zusammen mit der Cellistin Leila Bordreuil enterte Halo die Bühne und setzte sich an den Flügel, den sie meist nur mit einer Hand bespielte, da diverse Effektgeräte und Synthesizer mit der anderen Hand zu bedienen waren. Und so klang die „Atlas“ betitelte Arbeit des Duos keineswegs neoklassizistisch. Anflüge von impressionistischen Piano-Tupfern wurden von schneidenden Störsignalen weggefräst, das Cello winselte und Halo killte cineastische Ambientmomente rasch mit kalter Rache: wie eine Motorsäge, die Seerosen entzweit.
Gleich nebenan spielte „Eros“. Privat wahrscheinlich alle sehr nett, aber auf der Bühne herrschte Grabkammernatmosphäre: Kein Wunder, der britische Technohärtner Regis spannt hier zusammen mit Boris Wilsdorf (Produzent der Einstürzenden Neubauten) am Bass und dem ultrasonoren Liam Andrews am Mikrofon. Eine Geburtstagsfeier in der Postpunk-Kühltruhe von Killing Joke, es fröstelte!
Zur auditiven Entspannung lief im kleinen Club Ohm Uplifting-Sound, DJ Stella Zekri etwa wagte es mit Deephouse-Klassikern Berlin Atonal angenehm melodiös klingen zu lassen.
Kunst mehr als nur Beiwerk
Vier Jahre ist es her, dass das Atonal zuletzt als Festival stattfand. 2020, im ersten Coronajahr, erschien stattdessen ein Musikalbum, 2021 gab es ein paar Konzerte, vor allem aber mit „Metabolic Rift“ eine vielbeachtete Ausstellung, die das Kraftwerk in einen immersiven Kunstparcours verwandelte. Richtungsweisend offenbar: Kunst ist auch 2023 nicht nur dekoratives Beiwerk, sondern in das Festival als eigenständige Programmpunkte integriert. So präsentierte etwa James Richards am Donnerstagabend eine neue Videoarbeit auf der großen Bühne. Auch Kunstweltliebling Florentina Holzinger, ohne die es zurzeit nicht zu gehen scheint, war am Eröffnungswochenende zugegen.
Berlin Atonal, bis 17. September, Kraftwerk Berlin
Die umtriebige österreichische Choreographin inszenierte die Performance „Etude for Church“: Ein brachialer 20-minütiger Trip, der wortwörtlich unter die Haut ging. Zunächst schwenkte beim Lustwandeln zwischen den Zuschauer:Innen eine Nackte Weihrauch und führte die Gemeinde zu einer riesigen Kirchenglocke, die Holzinger in die kathedralenartige Haupthalle des Kraftwerks gehängt hatte. Um und in dieser baumelten fünf nackte Performerinnen, zum Teil an Fleischerhaken aufgehängt, und läuteten mit ihren Körpern als Klöppel zum Techno-Gottesdienst. Wie ein barockes Deckenfresko mit dem Orgien- und Mysterientheaters eines Hermann Nitsch und dem Endzeit-Knowhow der kalifornischen Survival-Research-Laboratories.
Gegensätzlich und herausfordernd gut geriet auch der Auftritt der italienischen Künstlerin Caterina Barbieri mit dem Elektronikduo Space Afrika aus Manchester. Barbieri schlüpfte in eine neue Rolle als Folksängerin, die mit der akustischen Gitarre berückenden Minimalismus bot, zu dem die Glitchsounds von Space Afrika wie Fliehkräfte wirkten.
Wabernder Vibrato, kehlige Songs
Der Freitagabend stand dann im Zeichen der Stimme. Siddharta Belmannu, klassisch ausgebildeter Hindustani-Sänger, stellte mit auratisch waberndem Vibrato zusammen mit dem in Berlin lebenden britischen Dubstep-Produzenten Shackleton und dem polnischen Jazzmusiker Wacław Zimpel das kürzlich veröffentlichte gemeinsame Album vor. Im Anschluss versuchte Venus Ex Machina mit dem versunkenen Kontinent Lemuria Kontakt aufzunehmen, mit mythischem Industrial, hämmernder Drum Machine und eben ihrer Stimme. Danach stimmte die Avantgarde-Violinistin und Folksängerin Sara Parkman, die von Aasthma – dem poppigeren Sideprojekt der schwedischen Technoproduzenten Pär Grindvik und Peder Mannerfelt – eingeladen worden war, kehlige Wikingerlieder an.
Zu späterer Stunde dann pfefferte Aya von der kleineren Stage Null aus dem Publikum ihre Zeilen wie Wurfgeschosse um die Ohren. Die britische DJ und Produzentin vermengte rhythmischen Noise, wild zusammengestoppelte Clubmusik, Spoken Word und Grime und das mit vollem Körpereinsatz. Aggressiv und rotzig klang das, emotional und verschroben komisch, absolut umwerfend. Richtig verstehen konnte man ihre Texte während des Konzerts leider nicht. Nachhören kann man sie auf Ayas 2021 veröffentlichten Album „Im Hole“.
Die diesjährige Ausgabe von Atonal sei die spektakulärste aller Zeiten, behauptete das Festival vorab. Ist sie das nun? Das müssen die nächsten Tage erst noch zeigen. Das Festival geht noch bis zum kommenden Sonntag.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“