Ein Foto als Kündigungsgrund

Erneut feuert Amazon einen Betriebsrat. Er traf sich mit Politikern, während er in einem Seminar sitzen sollte. Der Versandhändler sieht darin Betrug bei Arbeitszeit und Reisekosten – und bekam vor dem Arbeitsgericht recht

Vorsicht, Personaler schauen mit: Auf Facebook postete Ver.di dieses Foto von Rainer Reising (2. v. l.) mit Ministerpräsident Stephan Weil (SPD, Mitte) Foto: Ver.di

Aus Verden Franziska Betz

Kämpferisch gab sich Rainer Reising am Dienstagmittag in Verden: „Unser Kampf ist hier nicht zu Ende, ich stehe hier exemplarisch für circa 1,5 Millionen Arbeitnehmende, die Amazon weltweit hat“, sagte er, nachdem das dortige Arbeitsgericht seine Klage gegen eine Kündigung durch den Logistikkonzern Amazon abgewiesen hatte.

Wegen Spesenbetrugs und Arbeitszeitbetrugs hatte Amazon dem Betriebsrat Rainer Reising fristlos gekündigt. Zu Recht, entschied das Arbeitsgericht Verden.

Das Amazon-Lager in Achim gibt es seit 2021. 2022 hatte Reising dort den Betriebsrat mitgegründet. Zuletzt war er freigestellter Betriebsrat und Vertrauensperson in der Schwerbehindertenvertretung.

In dieser Funktion – und in Absprache mit seinem Arbeitgeber – nahm Reising im Februar an einem mehrtägigen Seminar zum Thema Schwerbehindertenvertretung in Köln teil und mietete für die Anfahrt einen Mietwagen auf Kosten seines Arbeitgebers, die Spritkosten rechnete er ebenfalls mit Amazon ab.

In der gleichen Woche nahm Reising jedoch auch an einem Treffen mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in Berlin und einem Treffen mit dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Stephan Weil (beide SPD) in Hannover teil. Zugunsten der Treffen verpasste er die halbstündige Einführung und ein Nachmittagsmodul des Seminars.

Bei den Treffen – bei denen es laut Reising um Datenschutz, IT-Tools und den Umgang mit der Mitbestimmung in seinem Betrieb ging – entstanden Fotos mit den Politikern, die später in den sozialen Medien veröffentlicht wurden.

Diese Fotos riefen laut den Amazon-Anwält*innen einen Personalleiter von Amazon auf den Plan, der daraufhin die Ermittlungen aufnahm. Drei Wochen später hatte Rainer Reising die fristlose, außerordentliche Kündigung auf dem Tisch.

Amazon wirft seinem ehemaligen Mitarbeiter vor, mit der Arbeitszeit betrogen zu haben, da er im unternehmensinternen Zeiterfassungssystem die offiziellen Zeiten des Seminars angegeben hatte, nicht aber seine tatsächliche Anwesenheit. Reising entgegnete, dass es sich um eine neue Form der Zeiterfassung gehandelt habe und er nicht gewusst habe, wie die Zeiten einzutragen seien. Zuvor seien bei ganztägiger Abwesenheit vom Betriebsort einfach pauschal acht Stunden eingetragen worden.

Zudem warf Amazon dem Betriebsrat vor, den Konzern um mehrere Hundert Euro an Spesen betrogen zu haben, da dieser die Tankbelege für seine Fahrten mit Amazon abgerechnet hatte, die laut Amazon nicht Teil seiner Aufgaben als Betriebsrat waren, sondern seine „privaten und gewerkschaftlichen Interessen“ betroffen haben. „Die Betriebsratsarbeit findet in erster Linie im Betrieb statt“, sagte ein Amazon-Anwalt dazu.

Reisings Anwalt hingegen nannte die Kündigung unverhältnismäßig. Er beharrte darauf, dass ein freigestelltes Betriebsratsmitglied seine Arbeit selbst einteilen darf. Die Treffen mit den Politikern, zu denen zwar die Gewerkschaft eingeladen hatte, seien explizit dazu da gewesen Betriebsräte zusammenzuführen.

Auf die Frage, ob Treffen mit den Politikern nun zur Betriebsratsarbeit gehören oder nicht, wollte die Vorsitzende Richterin am Dienstag nicht eingehen. In ihrer Urteilsbegründung sagte sie, dass nach Erachten des Gerichts Gründe vorlägen, „die es für die Arbeitgeberin unzumutbar machen, das Arbeitsverhältnis fortzuführen“ – und meinte damit die falsch angegebenen Arbeitszeiten und die falsch abgerechneten Tankbelege. Weil ein freigestellter Betriebsrat in seiner Arbeit sehr frei sei, „muss der Arbeitgeber vertrauen können, dass Sie richtige Angaben machen“, sagte sie und wandte sich dabei direkt an Rainer Reising.

„Die Kammer bewertet nicht, dass Reising als Gewerkschaftsmitglied aktiv geworden ist“, sagte Gerichtsdirektor Christian Hageböke der taz. Das Urteil sei keine Sanktion für das Treffen mit Minister Heil. Es gehe lediglich um die Pflichtverletzung, die Reising durch die Falschangabe seiner Arbeitszeiten und Fahrtwege gemacht habe.

Der Fall von Rainer Reising steht nicht allein. An allen drei Standorten in Niedersachsen, an denen es Betriebräte gibt, geht Amazon gegen ein Betriebsratsmitglied vor.

Im Amazon-Verteilzentrum im niedersächsischen Wunstorf ließ Amazon im Februar den Vertrag des Betriebsrats Samuel Onyekachi Atuegbu auslaufen. Auf Grund seines gewerkschaftlichen Engagements, vermutet Ver.di und startete eine Kampagne für eine Festanstellung. Atuegbu sagt, von 18 Beschäftigten seiner Gruppe habe Amazon 16 übernommen – „nur mich und eine alte Frau nicht“.

In Winsen (Luhe) kündigte Amazon dem Betriebratsvorsitzenden Detlev Börs. Das Unternehmen hatte ihm vorgeworfen, private Treffen als Arbeitszeit für den Betriebsrat abgerechnet haben. Anders als an anderen Standorten, hat Ver.di in Winsen im Betriebsrat eine Mehrheit. Der Betriebsrat stimmte der Kündigung nicht zu. Amazon zog im April vor das Arbeitsgericht Lüneburg und bekam recht.

Reising fand nach der Urteilsverkündung klare Worte: „Aufgeben ist keine Option“, sagte er und kündigte an, in Berufung gehen zu wollen. Vor Gericht war Reising in einem schwarzen Kapuzenpullover mit dem Logo der Organisation „Amazon Workers International“ erschienen, bei der er selbst engagiert ist.

Etwa 30 Menschen von Ver.di, der IG Metall und der Stadtteilgewerkschaft „Solidarisch in Gröpelingen“ in Bremen hatten sich am Dienstagmorgen vor dem Arbeitsgericht in Verden versammelt, um Reising zu unterstützen. Nach der Urteilsverkündung skandierten sie „Make Amazon pay“ und „Auch wenn Jeff Bezos das nicht mag, wir woll’n den Tarifvertrag“.

Auch wenn Reising seine Arbeitszeiten und Dienstfahrten formal korrekt angegeben und abgerechnet hätte, hätten die An­wäl­t*in­nen des Konzerns eine Möglichkeit gefunden, ihn rauszuwerfen, glaubt Ver.di-Sekretär Nonni Morisse. Denn „Amazon hat aus unserer Sicht grundsätzlich ein Problem mit gewerkschaftlich aktiven Betriebsräten“. Es müsse „gesetzlich etwas geändert werden“, sagte er der taz. „Der Schutz für Betriebsräte muss ausgeweitet werden.“