Prozess um Pyrotechnik mit Verletzten: Zur Aussage verpflichtet
Drei Sozialarbeiter:innen droht Haft, wenn sie nicht preisgeben, was Klient:innen ihnen anvertraut haben. Ein Bündnis fordert Reformen.
Im konkreten Fall geht es um Karlsruher Fußballfans, die im April im Stadion Brandsätze zündeten. Es gab elf Verletzte. Die Staatsanwaltschaft ermittelt unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung und Verstößen gegen das Sprengstoffgesetz. Die drei Sozialarbeiter:innen arbeiten mit ebenjenen Fußballfans im Karlsruher Fanprojekt. Sie begleiten die Fans zu Spielen, vermitteln zwischen Ultras und Polizei und beraten in allen erdenklichen Lebenslagen.
Sozialarbeiter:innen in Deutschland müssen zwar grundsätzlich für sich behalten, was Klient:innen ihnen anvertrauen. Lädt sie aber ein Gericht vor, sind sie gesetzlich zur Aussage verpflichtet. Denn im Gegensatz etwa zu Geistlichen, Hebammen oder Psychotherapeut:innen, schützt das sogenannte Zeugnisverweigerungsrecht der Berufsgeheimnisträger (§ 53 StPO) Sozialarbeiter:innen nicht. Ausnahmen bilden lediglich die Schwangerschaftskonflikt- und die Drogenberatung.
Nach den Pyrotechnikvorfällen im April organisierten die Sozialarbeiter:innen in Karlsruhe Versöhnungsgespräche zwischen den Fans, die gezündet hatten und den Verletzten. Als die Staatsanwaltschaft von den Versöhnungsgesprächen erfuhr, lud sie die drei Sozialarbeiter:innen vor. Ihr Vorgesetzter Wilfried Grüßinger findet das Vorgehen falsch, hat aber Verständnis für die Staatsanwaltschaft, die eben ihre Arbeit mache. „Die Politik muss das lösen“, fordert Grüßinger. „Aktuell wird der Konflikt auf Einzelpersonen verlagert.“
Die letzte Grundsatzentscheidung ist 50 Jahre alt
Die aktuell betroffenen Sozialarbeiter:innen aus dem Fanprojekt Karlsruhe sollen selbst nicht mit der taz sprechen. Ihr Vorgesetzter Grüßinger will sie aus der Öffentlichkeit raushalten – um die Kommunikation mit der Staatsanwaltschaft nicht zu belasten. Er gibt aber zu bedenken: „Wir arbeiten vor allem präventiv und deeskalierend. Dabei sind wir auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Fans angewiesen“, so Grüßinger. „Wenn wir das Vertrauen verspielen, können wir unseren Arbeitsauftrag nicht mehr erfüllen. Die Fans werden uns dann auf Abstand halten.“
Die letzte Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts über eine Ausweitung des Rechts auf die Soziale Arbeit liegt über 50 Jahre zurück. Das Gericht versagte es der Berufsgruppe damals mit der Begründung, die Soziale Arbeit sei kein Beruf, „für dessen Gesamtbild die Begründung höchstpersönlicher, grundsätzlich keine Offenbarung duldender Vertrauensverhältnisse kennzeichnend wäre“.
Kurz: Das Gericht findet, die Soziale Arbeit sei in ihrer Arbeit nicht auf das gleiche Vertrauensverhältnis angewiesen, wie etwa Psychotherapeut:innen. Die Verfassungsrichter:innen befanden auch, das Berufsfeld sei unklar, besäße keine besondere Vorbildung, keinen gewachsenen Berufsethos.
Dass dies bis heute gilt, kritisieren viele Berufsverbände. Neun von ihnen haben sich in einem Bündnis zusammengeschlossen – darunter der Deutsche Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH), die Bundesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendhilfe sowie mehrere Fanprojekte. Sie setzen sich gemeinsam für ein Zeugnisverweigerungsrecht in der Sozialen Arbeit ein.
Sozialarbeiter:innen in der Zwickmühle
Matthias Stein ist Sprecher des Bündnisses für ein Zeugnisverweigerungsrecht. Er leitet selbst ein Fanprojekt in Jena.
Stein sagt der taz: „Die Justiz riskiert, die Vertrauensverhältnisse zu zerstören, auf die wir angewiesen sind.“ Stein weiß, wovon er spricht: Auch ihn lud die Staatsanwaltschaft schon vor, um ihn über seine Klient:innen zu befragen. „Als Sozialarbeiter:in, ist man in einer Zwickmühle“, sagt Stein.
Doch das fehlende Recht ist nicht nur für die Fanprojekte ein Problem. „Das Fehlen des Rechts auf Zeugnisverweigerung kann die Soziale Arbeit in vielen Feldern verunmöglichen“, sagt Matthias Stein. Das gelte nicht nur für konkrete Vorladungen. Allein die Möglichkeit zur Aussage gezwungen zu werden, könne dazu führen, dass die Klient:innen Wichtiges verschweigen und weniger Vertrauen aufbauen. „Es ist ein Thema für die ganze Profession“, sagt Stein.
Das Bündnis für ein Zeugnisverweigerungsrecht bezieht sich auch auf ein Gutachten von 2018, das beweisen soll, dass die Rechtslage sich seit der Grundsatzentscheidung vor über 50 Jahren geändert hat. Die Professoren Peter Schruth und Titus Simon von der Hochschule Magdeburg Stendal schreiben darin, das Verfassungsgericht argumentiere wie ein „Erzählband aus dem vorigen Jahrhundert“.
Die Gutachter verweisen auf 40 Jahre fachliche Entwicklung in der Sozialen Arbeit, mit methodischen Standards, gewachsener Berufsethik und vereinheitlichten Ausbildungsstandards. Ohne Schutz des Vertrauens ist zudem laut Gutachten die Soziale Arbeit mit Personen, die mit dem Gesetz in Konflikt kommen, kaum möglich.
Sachsen stößt eine Bundesratsinitiative an
Aktuell arbeitet das Bündnis an einem konkreten Vorschlag, wie das Recht auf Zeugnisverweigerung auf Sozialarbeiter:innen ausgeweitet werden kann. Außerdem rufen sie Kolleg:innen dazu auf, Fälle zu melden, in denen das fehlende Zeugnisverweigerungsrecht die Arbeit behindert hat. Matthias Stein gibt sich optimistisch: „Ich sehe in Teilen der Politik durchaus Bereitschaft, etwas zu verändern“, sagt Stein.
Im März beschlossen die sächsischen Regierungsfraktionen CDU, Grüne und SPD eine Bundesratsinitiative für ein Zeugnisverweigerungsrecht anzustoßen. Über Bundesratsinitiativen kann auch der Bundesrat gesetzgebend tätig werden.
Das zuständige sächsische Justizministerium antwortet der taz: Die Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts sei ein wichtiges Anliegen. Das Ministerium werde sich „für eine Erweiterung des § 53 Strafprozessordnung einsetzen und einen entsprechenden Antrag im Bundesrat einbringen“. Einen konkreten Zeitplan gebe es aber noch nicht.
Auch im Bundestag rühren sich Abgeordnete zu dem Thema. Denise Loop, selbst Sozialarbeiterin und Obfrau der Grünen im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, fordert: „Eine Hilfeleistung durch Soziale Arbeit muss möglich sein, ohne dass die Betroffenen am Ende dafür bestraft werden.“ Es brauche ein Zeugnisverweigerungsrecht. Mit ihrer Partei setze sie sich deshalb für eine Reform der Strafprozessordnung ein.
Philipp Hartewig, sportpolitischer Sprecher der FDP, klingt da etwas gedämpfter: Die Erfahrungen aus Fanprojekten ließen zwar Bedarf für ein Zeugnisverweigerungsrecht erkennen. Es müsse aber „Umfang und Reichweite auch im Interesse von Rechtssicherheit und Fallpraxis genau geprüft werden“, sagt Hartewig.
Es drohen bis zu 2.000 Euro Ordnungsgeld
Wie die Berufsverbände von Polizei und Richter:innen zu der Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts stehen, bleibt unklar. Bis Redaktionsschluss äußern sie sich auf Anfrage nicht gegenüber der taz. Auch das Justizministerium gibt bis Redaktionsschluss keine Einschätzung ab, ob es die Erweiterung für umsetzbar und sinnvoll hält.
Bis zu einer Gesetzesänderung kann es also noch dauern. Solange appelliert Matthias Stein an die Träger der sozialen Arbeit, ihre Mitarbeitenden im Falle einer Vorladung zu verteidigen. Als die Staatsanwaltschaft Stein selbst vorlud, hielt sein Träger zu ihm. Der Träger schickte einen Brief mit dem Rechtsgutachten an die Staatsanwaltschaft und stellte einen Anwalt. „Die Justiz verhielt sich dadurch zumindest verständnisvoller und in einem Fall hat ein Richter sogar eingelenkt“, berichtet Stein.
Wilfried Grüßinger, der Vorgesetzte der drei vorgeladenen Sozialarbeiter:innen in Karlsruhe, versuchte bis zuletzt, die Vorladungen abzuwenden. Das scheiterte. Die drei Betroffenen mussten am Montag zur Vorladung erscheinen. Würden die drei sich weiterhin weigern, drohen ihnen bis zu 2.000 Euro Ordnungsgeld und final dann die sechsmonatige Beugehaft. Ob sie ausgesagt haben oder nicht, will Grüßinger aufgrund des laufenden Verfahrens nicht sagen. Der Sozialarbeiter seufzt nur und sagt: „Ich vermute, einfacher wird es erst mal nicht.“
Bleibt abzuwarten, ob die Karlsruher Sozialarbeiter:innen eine Strafe riskieren oder das Vertrauen zu ihren Klient:innen verspielen. Die Entscheidung wird so oder so eine schlechte sein.
Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die Sozialarbeiter:innen müssten vor Gericht aussagen. Das trifft nicht zu, sie müssen vor der Staatsanwaltschaft aussagen. Die entsprechende Stelle wurde korrigiert.
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