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„Neun Weise“ für Macrons Reform

In Frankreich erklärt der Verfassungsrat die Rentenreform für rechtens. Rechtsexperten kritisieren die Entscheidung, die Gewerkschaften rufen weiter zu Protest auf

Aus Paris Rudolf Balmer

Nachdem der französische Verfassungsrat, der Conseil constitutionnel, große Teile der Rentenreform am Freitagabend für verfassungskonform erklärt hat, gehen die Proteste weiter. Am Wochenende wurden mehrere Dutzend Personen bei nicht bewilligten Kundgebungen festgenommen, im nordfranzösischen Rennes ein Polizeikommissariat in Brand gesteckt.

Während der Kernpunkt der Rentenreform – die Anhebung des gesetzlichen Rentenalters von 62 auf 64 Jahre – durchkam, wurden sechs untergeordnete Punkte der Gesetzesvorlage vom Verfassungsgericht allerdings zurückgewiesen. Ausgerechnet die vorgesehene Förderung der Beschäftigung von „Senioren“ muss nun gestrichen werden. Damit wird das Gesetz noch unsozialer, als dies die Gewerkschaften befürchtet hatten.

Gebilligt wurde von den „neun Weisen“, wie die Ratsmitglieder oft genannt werden, auch der umstrittene Weg, wie der Gesetzesvorschlag Realität wurde: Die Regierung hatte mit allen Mitteln die parlamentarische Debatte verkürzt und zuletzt ihre Vorlage ohne Abstimmung in der Nationalversammlung durchgedrückt, wie es der Verfassungsartikel 49.3 ermöglicht. Ein Versuch der Opposition, die Regierung mit einem Misstrauensantrag zu stürzen, scheiterte.

Der vom ehemaligen sozialistischen Premierminister Laurent Fabius präsidierte Verfassungsrat besteht aus Mitgliedern, die vom Staatschef und von den Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern ernannt werden. Sie sind gehalten, in völliger Unabhängigkeit und rein juristisch zu urteilen. Mehrere von ihnen sind aber ehemalige Mitglieder oder Berater von Regierungen. Wie der Verfassungsrechtler Guillaume Tusseau erklärt, gilt der Conseil constitutionnel in Frankreich im Unterschied zu ähnlichen Instanzen in anderen Ländern als eher regierungskonform.

Das Urteil wird erwartungsgemäß kritisiert. In der französischen Zeitung Le Monde zerpflückt der Verfassungsexperte Dominique Rousseau die Urteilsbegründung. Darin wird explizit aufgeführt, dass Minister vorsätzlich „irreführende Angaben gemacht“ hatten, dass mehrere Prozeduren „in kumulierter Weise“ verwendet wurden, um die Parlamentsdebatte zu beschleunigen oder abzubrechen, und dass statt einer ordentlichen Gesetzesvorlage eine Änderungsvorlage zur Finanzierung der Sozialversicherung genutzt wurde. Dass das nicht als verfassungswidrig erachtet werde, hält Rousseau für „enorm“. Auch ein anderer Rechtsprofessor, Denis Baranger, erklärte öffentlich, dass der Verfassungsrat mit seinem Entscheid „eine Chance verpasst hat, ein Gleichgewicht zwischen den staatlichen Institutionen herzustellen“.

Dessen ungeachtet gilt die Reform aus der Sicht der Staatsführung nun für definitiv angenommen. Noch in der Nacht zum Samstag publizierte Staatspräsident Emmanuel Macron im Amtsblatt den Erlass, mit dem die neuen Bestimmungen ab dem ersten September in Kraft treten könnten. Vergeblich hatten die Gewerkschaftsführungen ihn ersucht, damit zu warten und ihnen eine Chance für eine erneute Debatte zu geben.

Volksabstimmung wäre nun einziges demokratisches Mittel gegen die umstrittene Reform

Abgelehnt hat der Verfassungsrat zudem einen Antrag der linken Opposition, die vom rechtlichen Mittel der Volksabstimmung Gebrauch machen wollte. Ein zweiter Anlauf wird nun unternommen, der Rat soll am dritten Mai darüber entscheiden. Das wäre die einzige Möglichkeit, im Rahmen demokratischer Mittel auf die umstrittene Reform zurückzukommen. Die Gewerkschaften rufen dazu auf, am 1. Mai auf die Straße zu gehen, um weiter die Rücknahme der Rentenreform zu fordern.

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