Malerei in Lübecker Kirche entdeckt: Kulturschatz im Arbeiter-Kiez
In einer Kirche im Lübecker Stadtteil Kücknitz wurden übertünchte Ornamente entdeckt. Für die Denkmalpflege ist das ein spektakulärer Fund.
Denn ungewöhnlich ist vor allem, wo dieser Kunstschatz entdeckt wurde. Der Stadtteil ist vom Unesco-Welterbe, der Innenstadt, durch eine Wasserscheide getrennt. Südlich der touristisch geprägten Seebäder gelegen war er einmal der Ruhrpott der Hansestadt. Hier pochte mit einer Metallhütte und einer Werft bis Mitte des 20. Jahrhunderts das industrielle Herz der Stadt.
In der Arbeiterarchitektur der Zeit bewegte sich vieles. Statt großer Wohnblocks gab es Siedlungshäuser, klein, aber damals für Arbeiterfamilien ein Luxus. Sie hatten Gärten zur Selbstversorgung, es gab einen großen Laden, ein Kino, ein Badehaus – und zwei Kirchen für die schnell wachsende Bevölkerung. Eine davon ist die evangelische St.-Johannes-Kirche. Sie sieht ein bisschen aus wie eine Burg: Eine breite Freitreppe führt hinauf in einen massiven, quadratischen Turm. Rechts davon ist das Pfarrhaus angebaut, links schmiegt sich eine Schule an das Kirchenschiff. Als die Kirche 1910 eingeweiht wurde, standen die drei Gebäude wie ein Ausrufezeichen offen in der Mitte des Dorfplatzes.
Geplant wurden sie von dem Architekten Carl Mühlenpfordt. Er war bekannt in Lübeck und hinterließ in nur sieben Jahren viele Spuren, die das Stadtbild bis heute prägen. Sie verbinden Opulenz mit Schnörkellosigkeit, nehmen historische Elemente wie Rundbögen und Durchfahrten auf, um sie auf ihre schlichte Essenz zu reduzieren – ein Kontrast zur Jugendstil-Architektur der Jahrhundertwende. „Dafür hat sich der Begriff ‚Heimatschutz-Architektur‘ etabliert, der heute für uns anrüchig klingt“, erzählt der Pastor der St.-Johannes-Kirche Albrecht Martins. „Auf die Frage, wie man Architektur zeitgemäß machen kann, gab es als Antwort nicht nur das Bauhaus.“
Martins hat sich viel mit dem Architekten seiner Kirche beschäftigt. Bevor er Pastor wurde, überlegte er, Architektur zu studieren, dieses Interesse brennt in ihm bis heute. Er hat in den Archiven nach Spuren geforscht, zum Beispiel im Archiv von Lübecks größtem Unternehmen, den Drägerwerken. Mit der Tochter des Firmengründers Anna Dräger war der Architekt Mühlenpfordt verheiratet.
Anna Dräger war Malerin mit einem Faible für Blumenmotive, ähnlich wie sie in der St.-Johannes-Kirche entdeckt wurden. Möglicherweise war es ihre Idee, das Kirchenschiff mit den Ornamenten zu bemalen. „Dass sie die Malereien alle selbst gemacht hat, glaube ich nicht“, sagt Martins. „Sie hat ja bald darauf, 1911, ihren ersten Sohn bekommen. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass sie sie entworfen und die Maler angeleitet hat.“
Die Kirchgänger, die sich damals im Kirchenschiff drängten, saßen also unter einem Rankenteppich auf schwarzem Grund. Auf den Rosetten, die die Empore umgeben, wurden während des Ersten Weltkriegs auch die Namen und Lebensdaten der Gefallenen verewigt. Die Kirche war nicht nur ein Treffpunkt und Ort des Glaubens, sondern auch der Gedenkkultur, sie dokumentierte Leben und Sterben. Heute sind die Gefallenen der Kriege in einem Buch verewigt, das in einer Mauernische neben dem Eingang liegt. Die Kassetten sollen nicht restauriert werden, sagt Martins, denn „diese Form des Heldengedenkens ist nicht mehr zeitgemäß“.
Auch sonst hat sich viel verändert. In Kücknitz ging 1981 das Hochofenwerk insolvent und 2002 die Flenderwerft. Da war der wirtschaftliche Niedergang des Viertels schon vollzogen, von einst 4.000 Arbeitern waren nur noch 800 übrig. Die rund 18.600 Bewohner lebten plötzlich in einer Art Niemandsland. Heute fahren die meisten Bewohnerinnen und Bewohner zum Arbeiten in andere Stadtteile, und Kücknitz ist einer der wenigen Orte in der Hansestadt mit erschwinglichen Mieten.
Manche Gemeindemitglieder fragten Martins, ob die 1,7 Millionen Euro für die Neugestaltung der Kirche wirklich nötig sind. Ob man das Geld nicht besser in soziale Projekte stecken sollte wie das Sozial-Kaufhaus, das die Gemeinde wenige Meter entfernt betreibt. Ihnen entgegnet er, dass auch ein Gebäude sozial ist, weil es etwas mit dem Wohlbefinden der Menschen macht. „Bei einem Privathaus würde auch niemand bestreiten, dass es nach 50 Jahren eine Renovierung braucht.“
Die meisten Gemeindemitglieder stehen hinter der geplanten Erneuerung, viele haben schon dafür gespendet. In anderthalb Jahren soll der Umbau fertig sein. Unter dem Motto „Alles Klar“ soll die Kirche schlicht und hell werden mit einem zusätzlichen Fenster, dem neuen Kalksteinboden und einem Altar, dessen Material an die Industrie im Ort erinnert. Wenn die Restauratoren in anderthalb Jahren mit ihrer Arbeit fertig sind, wird sich dann darüber auf dunklem Grund ein Himmel aus gelben Ornamenten spannen.
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