Haushaltsauflösung nach dem Tod: Was vom Leben übrig bleibt

Als der Vater der Autorin aus Lübeck starb, hinterließ er ein Haus in Trier voller Vergangenheit. Mit ihren Brüdern musste sie aufräumen.

Ein Einfamlienhaus von außen. Nach der Haushaltsauflösung nach dem Tod des Vaters ist das Haus nur noch eine leere Hülle

Nach der Haushaltsauflösung: das Haus im leeren Zustand ist nur noch eine Hülle ohne Seele Foto: Friederike Grabitz

LÜBECK/TRIER taz | Meine Brüder und ich stehen im Haus unseres gerade verstorbenen Vaters. Wir zögern, etwas anzufassen. Es ist, als wäre er fortgegangen und hätte nur vergessen, seine Sachen mitzunehmen. Jetzt helfen wir bei seinem Umzug ins Nirgendwo. Es fühlt sich übergriffig an, sogar die Laufrunde durch den Wald: schließlich war das sein täglicher Weg. Also konzentrieren wir uns zuerst auf Dinge, die einmal uns gehört haben. Von mir sind es nicht viele, weil ich nie in diesem Haus gelebt habe. Ich war immer die Nestflüchterin. Ich bin die Einzige der Geschwister, die weggezogen ist aus der Stadt. Schon mit 17 habe ich mir ein WG-Zimmer gesucht. In meiner Erinnerung war es harte Arbeit, sich das zu finanzieren und gleichzeitig noch einigermaßen durchs Abi zu kommen.

Möglicherweise ist diese Erinnerung aber auch ein Mythos. In einer staubigen Kiste finde ich meine Jugend-Tagebücher, die hauptsächlich von Exzessen erzählen, von Freunden, Reisen und Partys. Dahinter eine wenig sympathische Grundierung jugendlicher Selbstüberschätzung. Lektion Nummer eins: Annehmen, was war. Und ich muss nicht alles behalten, nur weil es alt ist und einmal Ich war.

Nun warten fünf Zimmer voll Möbel und Hausrat darauf, dass etwas mit ihnen geschieht. Jedes Jahr sterben in Deutschland eine Million Menschen, jede und jeder von ihnen hinterlässt durchschnittlich 10.000 Dinge. Nur, wohin damit? Wir haben ja selbst schon alles, was wir brauchen.

Der einfachste Weg wäre, eine Firma zu beauftragen. Diese Dienste heißen hier „Entrümpelung“. Aber der Nachlass meines Vaters ist kein Gerümpel. Er hat immer Wert auf Qualität gelegt, und dazwischen gibt es all das, was nur für uns einen Wert hat: Gegenstände mit Geschichte, Fotoalben, Schmuck von unserer Mutter, die vor 16 Jahren bei einem Bergunfall starb. Seitdem hat unser Vater das große Haus lange allein bewohnt und die letzten Jahre zusammen mit seiner Freundin.

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Nachhaltigkeit ist harte Arbeit

Nach seinem Tod ist sie schnell ausgezogen, die Erinnerung war zu quälend. Nun hilft sie, Möbel, Geschirr, Bettwäsche wieder in Umlauf zu bringen. Denn schnell wird klar: Nachhaltigkeit ist harte Arbeit, noch dazu fast unbezahlt. Wir teilen diese Arbeit auf. Ein Bruder macht den Papierkram, einer macht das Haus schick, und ich sorge dafür, dass es leer wird. Von jetzt an fahre ich die rund 650 Kilometer ein halbes Jahr lang jeden Monat für eine Woche von meinem Zuhause in Lübeck nach Trier.

Zuerst organisieren wir Haus-Flohmärkte. Unsere ersten Gäste sind Händler. Alles Männer in ihren 50ern mit den immer gleichen Fragen: „Haben Sie Militaria? Alte Münzen? Gold?“ Mit ihrem kühlen Blick auf die Dinge treiben sie meine Brüder, für die das Haus ihre Heimat war, in die Flucht. Aber sie kaufen viel, auch ohne Militaria, und feilschen nicht. Es kommen auch zwei junge Frauen, die einen Kindergarten ausstatten wollen (mit Bürsten zum Airbrush-Malen), ein DJ kauft einen Plattenspieler, und sogar das alte Puppenhaus findet einen Liebhaber.

Die Gäste entdecken Dinge, auf die ich nicht gekommen wäre. Zum Beispiel den wunderbaren Satz in einem alten Tschechisch-Wörterbuch: „Können Sie mir ein Telefonat nach Prag durchstellen?“

Ein leeres Zimmer in einem Haus. Nach der Haushaltsauflösung nach dem Tod des Vaters der Autorin ist das Haus nur noch eine leere Hülle

„Im leerem Zustand ist das Haus nicht mehr das gleiche …“, so die Autorin zu diesem Bild Foto: Friederike Grabitz

Mit den restlichen Dingen fahren wir alle Umsonst-Läden rund um Trier ab. Viele nehmen keine Spenden an, manche wollen nur Kleider, andere nur Kleinmöbel. Die Bücherregale werden auf diese Weise nicht leer.

Die Stasi-Akte meiner Eltern

Also scanne ich Nächte lang ISBN-Nummern für Gebrauchtbücher-Portale, fünfzehn Kartons voll. Medizin und Musik von meiner Mutter, Politik und Esoterik von meinem Vater. Die Bücher meiner Eltern erzählen viel aus ihrem Leben und auch davon, dass es okay ist, nicht alle Interessen zu teilen.

Eine Kiste mit alten Reiseführern erinnert an Familienurlaube. Sie könnte komplett ins Altpapier, doch ein Gefühl lässt mich zögern. Plötzlich fällt aus einer Wanderkarte der Führerschein meiner Urgroßmutter, ausgestellt am 10. Mai 1911 in Dresden. Sie war die erste Frau der Stadt, die einen Wagen fahren durfte. In der Familie wurde immer von diesem Dokument erzählt, doch niemand wusste, dass es noch da ist.

Plötzlich fällt aus einer Wanderkarte der Führerschein meiner Urgroßmutter, ausgestellt am 10. Mai 1911 in Dresden

Ich finde auch die Stasi-Akte meiner Eltern vor ihrer Ausreise aus der DDR. Faszinierend ist die paranoide Schrulligkeit, die daraus spricht: Offenbar konnte ein Hermann-Hesse-Lesekreis das Ministerium für Staatssicherheit in Angst und Schrecken versetzen. Ein grottiges Führungszeugnis, von einer Diktatur ausgestellt, ist ein Kompliment.

So ein Tod wäscht den Firnis weg, der sonst wie eine warme Decke über dem Alltag liegt. Alles riecht nach unseren Eltern und will wissen, was das mit uns macht. Wer war mein Vater, zu dem ich die letzten Jahre keinen Kontakt haben wollte? Wie wird sich jetzt, wo er gegangen ist, das Gefüge der Familie verschieben? Das Tasten in der Vergangenheit führt uns Geschwister zusammen. In einer Blase zwischen Diesseits und Jenseits verbringen wir so viel Zeit miteinander wie seit Jahren nicht.

Der Nachlass hat alle Umzüge überdauert

Bevor sie in diesem Haus wohnten, sind unsere Eltern oft umgezogen, einmal sogar mit Ausreiseantrag von Ost nach West. Der Nachlass unserer Vorfahren hat all diese Umzüge überdauert. Darin finden wir Hunderte Zeichnungen und Bilder unserer Vorfahren und verteilen sie in der Großfamilie.

Ein Opa und sein Bruder waren Maler unter Bauern, nur von ihrer Mutter, unserer Uroma, verstanden und gefördert. Als Künstler auf dem Dorf und später als Soldat wider Willen war unser Opa nie am richtigen Platz, daran ist er schließlich zerbrochen. Sein Trauma hat die Generationen überdauert. Doch in seinen Bildern fehlt es so deutlich, dass die Stille darin uns anspringt. Die meisten sind berückend schöne und erschreckend detaillierte Porträts von Menschen, die heute alle tot sind.

Ein paar Ölbilder von Landschaften und Stillleben bieten wir im Internet an. Ein einziges findet Abnehmer, sogar gleich zwei, das macht uns stutzig. Wir finden heraus, dass das Bild nicht von unserem Großonkel, sondern von einem bekannten Sezes­sionsmaler stammt und nicht 130, sondern 3.000 Euro wert ist. Es muss über unsere Uroma aus der Linie der Mutter in die Familie gekommen sein. In der Kleinstadt, in der der Künstler viele Jahre lebte, hatte sie ein Hotel. Vermutlich wohnte er dort und bezahlte mit einem Bild seine Miete.

Ich storniere den Verkauf, doch einer der Käufer droht umgehend mit einem Gerichtsprozess. Einige Nächte schlafe ich schlecht und lese mich durch Paragrafen: Was ich verkauft habe, ist ja eigentlich etwas anderes. Ich finde heraus, wie das vor Gericht funktionieren könnte – aber es ist riskant und sehr teuer, sollte ich scheitern. Dann meldet sich mein jüngster Bruder: Das Bild des Sezessionsmalers, von dem damals niemand etwas wusste, sei bei einer schlechten Restaurierung komplett übermalt worden. So gesehen sind 130 Euro ein guter Preis.

Nur noch Skelett ohne Seele

Ein Nachlass besteht auch aus Bürokratie. Abos müssen abbestellt, Verträge gekündigt werden. Wo ist bloß die Kundennummer für den Stromvertrag? Zwei Steuererklärungen für einen Toten arten in einen Nebenjob aus. Die Bank möchte, dass wir das Konto des Toten auflösen. Das geht aber nur mit Erbschein, und der ist nach acht Monaten immer noch nicht da.

Zwei Steuerer­klärungen für einen Toten arten in einen Nebenjob aus

Währenddessen mache ich eine steile Karriere als Online-Verkäuferin. Es ist eine eintönige Arbeit: Möbel fotografieren und ausmessen, Termine machen. Weil unsere Preise für die guten Holzmöbel knapp über dem Rohholz-Preis kratzen, ist das Haus drei Monate später wirklich leer.

Jetzt wirkt es fremd, ist nur noch Skelett ohne Seele. Schmutzecken, Löcher in der Tapete, Spuren auf dem Parkett treten hervor. Die Zimmer sind ungewohnt hell und groß. Stimmen werden verschluckt, alles hallt eigenartig und lässt uns fast ehrfürchtig flüstern. Hier war einmal der Fixpunkt der Familie, mit den Eltern als Zentralgestirn. Auch wenn nicht alles schön war in dieser Familie, gab es eine Zeit, da gingen wir davon aus, es würde ewig bleiben. Nun kann nichts mehr verschleiern, dass der Stern erloschen ist.

Das Haus war das Lebensprojekt der Eltern. Wie ein gelungenes Leben aussieht, war für sie und ihre Generation klar definiert: Eigenheim, Kinder, stabile Ehe. Zu heiraten und auf Pump ein Haus zu bauen, war in ihrer Generation ein selbstverständlicher Traum. In meiner ist es ein Statement. Vielleicht hat uns das Beispiel der Eltern auch abgeschreckt: der Druck, als Kind Teil von etwas Größerem sein zu sollen.

Am letzten Abend zünde ich im Garten eine Grabkerze für die toten Hunde der Familie an. Dann verabschiede ich mich von jedem der leeren Räume im Haus. Einen Moment kommt es mir vor, als hallte aus dem Flügel im Wohnzimmer ein heller Ton durch den Äther. Draußen singt zum ersten Mal im Frühling eine Amsel.

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Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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