Buchmesse-Spezial: Lesen, aber mit Haltung
Setzen, Stellen, Liegen? Welche Position ist die beste, damit die Lektüre eines Buches zum Vergnügen wird? Wir haben den Test gemacht.
Die Welt besteht aus Ablenkungen, die Lektüre eines Buchs will da gut geplant sein. So suche ich mir einen ruhigen Ort, schalte die Deckenlampe aus und eine kleine an, verstaue das Handy außerhalb der Greifweite, platziere mich, ziehe eine Decke bis zum Bauch, werfe den rechten über den linken Fuß oder andersrum, rücke die Hüfte gerade, schlage eine Seite auf und: lese.
Doch kaum bin ich in der Story angekommen, wird es ungemütlich. Mein Körper ruft mich auf, die Position zu wechseln. Ein Anlass, doch aufs Handy zu schauen oder Tee zu machen. Das reißt mich aus der Welt, die ich durch mein Buch doch bereisen wollte.
Ich gehe die Sache grundsätzlicher an und suche nach einer nachhaltigen, nach der besten Leseposition. Dazu nehme ich die jeweilige Haltung ein, schlage das „Blutbuch“ von Kim de l’Horizon auf und stoppe die Zeit, wie weit ich komme.
Am Tisch sitzend
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Typische Orte: Schreibtisch, Büro, Terrasse
Theorie: Gerader Rücken auf einem Stuhl, die Knie bilden einen rechten Winkel, die Füße flach auf dem Boden (wichtig!, schreiben jedenfalls Buchblogs). Überhaupt soll der menschliche Körper am Tisch kubistischen Prinzipien folgen, Berufsgenossenschaften empfehlen: „Oberarme senkrecht, Unterarme waagerecht, Blickwinkel ca. 40 Grad nach unten.“ Eine Haltung, in der sich nebenbei Notizen machen lässt, sie gilt nicht umsonst als Ideal der Arbeitswissenschaft – die einzige Haltung, die ergonomisch so wirklich erforscht ist.
Das Problem: So lässt es sich aushalten, aber es ist halt null gemütlich. Und eh sitzen wir mit unserem dauerlangen Rücken einem Missverständnis auf. „Der Arbeitsplatz muss so eingerichtet sein, aber das heißt nicht, dass Sie acht Stunden so sitzen sollen“, sagt Bernd Kladny von der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie. „Sie dürfen lümmeln und sich neigen. Zwei bis drei Haltungswechsel pro Stunde sollten es schon sein.“
Praxis: Ich starte im „Blutbuch“ auf Seite neun: „Beispielsweise habe ich ‚es‘ dir nie offiziell gesagt.“ Bereits nach zwei Seiten will sich der untere Nacken strecken, Richtung Himmel. Nach vier Seiten Bedürfnis, den Rücken zu knacksen, ich tue es. Nach neun Seiten kündigt sich ein Schmerz in den Wirbeln an, nach 15 Seiten Drang, die Beine zu überschlagen, ich widerstehe. 19 Seiten: Druck im Lendenwirbelbereich, ich kreise das Becken etwas, Gähnen. Nach 56 Seiten: Ich bin sehr müde geworden. Letzter Satz, Seite 64: „Ich bin also zum Bäcker und hab ein Pfünderli geholt.“
Dauer: 1 Stunde, 17 Minuten, 38 Sekunden.
Nach vorne gebeugt
Typische Orte: Toilette, U-Bahn, Wartezimmer
Theorie: „Meine besten Lese-Erlebnisse fanden auf der Toilette statt“, schreibt der Schriftsteller Henry Miller, „es gibt Passagen im Ulysses, die nur auf der Toilette gelesen werden können, wenn man ihre ganze Würze auskosten möchte“. Unterarme auf den Oberschenkeln abstützen und blättern: Wohl keine Haltung passt besser zum Ausdruck „über einem Buch brüten“. Sie dehnt sogar den Rücken.
Nur den Armen gefällt das auf Dauer nicht. In englischen Bibliotheken fand sich ab dem 18. Jahrhundert eine Lösung: der Hahnenkampfstuhl. Ein Stuhl, auf den Sie sich andersrum als gewohnt setzen, also die Brust statt den Rücken an die Lehne drücken und auf einem Pult blättern, das aus der Stuhllehne ragt. Die Arme finden auf Polstern Platz.
Praxis: Start Seite 64, „Als ich es der Hexe brachte …“ Nach elf Seiten: schwere Schultern und unangenehmes Ziehen im rechten Handgelenk. Nach 20 Seiten Schmerz im Bein, da wo der Ellenbogen reindrückt. Schluss ist auf Seite 97: „Die Meer badet das Kind.“ Die Unterarme schmerzen erst, als ich mich aus der Haltung löse.
Dauer: 38 Minuten,
20 Sekunden.
Am Sofa kniend
Typischer Ort: Wohnzimmer
Theorie: Nach einer „bequemen Lese-Position“ gefragt, antwortet gutefrage.net-User*in Inuitalia: „Ich nehme mir ein dickes Kissen, welches nicht beim Draufknien bis zum Boden ‚sinkt‘ (…) Ich setze mich vor mein Sofa (ein Bett sollte es auch tun) und stütze die Ellenbogen darauf ab. Ein bisschen Rumprobieren sollte dich auf diesem Weg zu der perfekten Leseposition führen.“
Darauf man muss erst mal kommen. Der französische Maler Emmanuel Benner malte im 19. Jahrhundert Maria Magdalena in dieser Position lesend in der Wüste. Nackt. Überhaupt hatten lesende Frauen zu dieser Zeit offenbar etwas Verruchtes an sich, aber dazu kommen wir noch.
Praxis: Start Seite 97: „Sie singen zusammen“, nach acht Seiten merke ich die gepressten Lendenwirbel etwa da, wo diese zwei Knubbel neben der Wirbelsäule sind, dorthin schreitet der Schmerz. Eine weitere Seite später höre ich auf bei „nur die Hoden, die Wurzeln seiner Männlichkeit, die ihn auch zum Unheil bewegt hatten, wurden unter die Erde verbannt“.
Dauer: 11 Minuten, 2 Sekunden. Da hätte ich mehr erwartet.
Im Stehen
Typische Orte: Bürgeramt, Bahnhof, an eine Wand gelehnt oder an einem Stehtisch
Theorie: Johann Adam Bergk, 1769 in Thüringen geboren, war so etwas wie ein Pop-Philosoph. So schrieb er „Die Kunst, Bücher zu lesen“ und klamüsert dort aus, wie und zu welchem Zweck jeweils Schauspiele, Gedichte oder Romane (gute wie schlechte) zu lesen seien. In einer Sache lag er daneben: „Im Stehen zu lesen ist für den Kopf und für die Füße nachteilig; jener bekommt den Schwindel, diese fühlen eine unnatürliche Schwäche, und wir sind fast nicht imstande, uns selbst zu tragen.“
Die Wahrheit ist, der Körper ist ein Pendel, und so lange das in Schwingung bleibt, ist doch alles gut. Und an eine Wand gelehnt kommt das Lesen im Stehen doch extrem lässig rüber.
Praxis: Seite 105, „Orchideen sind eine junge Familie“. Nach acht Seiten pulsiert das Blut in den Fersen, ich wippe automatisch auf die Zehen und zurück. So schwingt die Welt um mich, wie angenehm! Ein paar Seiten später sticht es doch in den Fersen, auf Seite 133 ist Schluss, „ich fühle hyperreale Finger, die in mir rumstochern (wie kamen die in meinen Arsch?)“.
Dauer: 38 Minuten, 18 Sekunden. Die Fersen kribbeln, nachdem ich mich wieder gesetzt habe.
Im Gehen
Typische Orte: Großstädte
Theorie: „Er konnte im Gehen ein Buch lesen und er that es oft. Er gewann dadurch Zeit“, so beschrieb es Phebe Ann Hanaford 1918 in ihrer Biografie „Abraham Lincoln: Sein Leben und seine Öffentlichen Dienste“. Junge Menschen, die im Gehen lesen, das Werk mit nur einer Hand vor der Nase, oft ist es ein Reclam-Heft: Die Buchwissenschaftlerin Ute Schneider von der Uni Mainz erinnert sich allenfalls aus ihrer eigenen Studienzeit, den 80ern, an sie – in Berlin sind sie aber nach wie vor zu beobachten, irgendwo zwischen Neukölln und dem Institut für Kulturwissenschaften. „Lesen in der Öffentlichkeit ist eine Form von Exhibitionismus“, zitiert Ute Schneider da einen Kollegen. Immerhin: Dem Orthopäden müsste das Lesen im Gehen gut gefallen, schließlich bin ich so immer in Bewegung.
Praxis: Seite 133 „… und wenn ich ‚die Hinteren‘ höre, dann schau ich runter an mir und sehe Hinterbeine“, ich gehe vor die Haustür und laufe los, nach zwei Seiten gehen die Schnürsenkel auf. Ich binde sie, gehe weiter. Die Zeilen springen nach jedem Mal Aufschauen. Dann blicke ich meist in die Gesichter der Passierenden, sie ziehen die Augenbrauen hoch. Es fühlt sich peinlich an. Auf Seite 141 gebe ich auf: „meaty dick, seine Dusche, sein Küchentisch, sein Wasserbett, schreit HMPPPFJAJAJA“.
Dauer: 17 Minuten, 51 Sekunden. So langsam war ich noch nie.
Auf dem Rücken liegend
Typischer Ort: Bett
Theorie: Im Bett also. Ausgerechnet am heimeligsten Ort eröffnet das Buch andere Welten am effektivsten. Das hat Fallstricke und politisch ist es auch. Im Pariser Bürgertum hat sich das Lesen im Bett so verbreitet, dass sich der Pädagoge Jean-Baptiste La Salle 1703 zum Tadel gezwungen sah: „Es ist zutiefst unsittlich und verderblich, im Bett müßig zu plaudern oder zu tändeln. Tut es nicht gewissen Personen nach, die dort lesen und andere Dinge treiben.“
Seiner Warnung zum Trotz wurde das Lesen im Bett mit der Zeit noch viel populärer, erst recht ab der Erfindung der Argand-Lampe im 19. Jahrhundert. Wobei die Mode-Magazine hier ordentlich Gender konstruiert haben, so Buchwissenschaftlerin Ute Schneider: „Da lesen Frauen oft im Bett, und zwar nackt; und Männer haben einen Hut auf, lesen Zeitung und sitzen auf der Parkbank.“
Praxis: Start Seite 141: „SLYTHERIN SLUT, 29, Franzose“ Ich liege flach, meine Beine sind überschlagen, mein Kopf auf einem Kissen. Ich habe ein Doppelkinn, das ist erstmal sehr gemütlich. Das Buch steht auf dem Bauch. Bei jedem Seitenende hebe ich es leicht, damit ich durch den Brillenrand auch die unteren Zeilen lesen kann. Nach 30 Seiten machen sich die Halswirbel bemerkbar, neun Seiten später dann der dringliche Wunsch, den Hals in alle Richtungen zu bewegen, nur nicht zum Doppelkinn hin. Seite 180, „ich bin eine gute Erde“.
Dauer: 54 Minuten,
48 Sekunden.
Auf dem Bauch liegend
Typischer Ort: Bett, Teppich, Liegewiese
Theorie: Diese Haltung gibt gleich eine Mit-Taschenlampe-unter-der-Decke-Atmosphäre. Der Orthopäde Bernd Kladny sagt, der Großteil der Wirbelsäule dürfte dabei gerade sein, aber die Halswirbelsäule werde dabei nach hinten geknickt – das belaste in dem Bereich besonders die Gelenke. Im schlimmsten Fall könne so eine Haltung zur „hypomobilen segmentalen Dysfunktion“ führen. Oder anders gesagt: Ein Wirbel blockiert.
Praxis: Seite 180, „Ich sitze neben dir, Grossmeer“ Nach 12 Seiten schläft der rechte kleine Finger ein, dann geht es Finger für Finger weiter. Kurz darauf verkrampfen die Schulterblätter, die wie ein Zeltdach über das Buch ragen. Auf Seite 201 ist Schluss: „Erektionsprobleme? Bankgeheimnis.“
Dauer: 28 Minuten,
13 Sekunden.
Auf der Seite liegend
Typischer Ort: Bett
Theorie: Urgemütlich, aber irgendein Körperteil wird schnell einschlafen, vermute ich.
Praxis: Seite 201: „Wenn nicht geschwiegen wurde, spürten die Prostituierten rasch, wie der Karren läuft.“ Ich liege wie ein krummer Embryo, den Unterarm auf dem Bett, nach 6 Seiten zieht die Schulter. Ich lege mein Kinn in meine Hand, kurz darauf tut mein Handgelenk weh. Seite 222: „Die Arbeit war ganz delektabel.“
Dauer: 27 Minuten,
58 Sekunden.
Lesesessel, Chaiselongue, Sonnenliege
Typische Orte: Salon, Sonnendeck, Sylt
Theorie: Wenn Buchwissenschaftlerin Ute Schneider ihre Studierenden losschickt, um Leute zu fragen, was Lesen für sie bedeutet, sei die Antwort kaum „Arbeit am Schreibtisch“, sondern „schöne Literatur, die ich in meinem Lieblingssessel lese“. Am besten mit Katze am Fuß, Hauptsache Gemütlichkeit. Ihre Sitzposition eint Lesesessel mit einigen Liegen: nicht sitzen, nicht flach liegen, irgendwas dazwischen. Pioniere dieser Haltung sind die griechische Kline sowie der römische Lectus, vergleichbar mit einer Chaiselongue.
Der simple Strandstuhl, klassisch klappbar aus Holz, kommt ab Mitte des 19. Jahrhunderts zum Einsatz, etwa auf dem Deck von Ozeankreuzern, zur selben Zeit, als auch das Freizeit-Lesen zur Mode wird. Am Strand lesen sei jedoch eine schlechte Idee, meint die Schriftstellerin Marguerite Duras: „Man kann nicht bei zwei Lichtern gleichzeitig lesen, dem Licht des Tages und dem Licht des Buches. Man sollte bei elektrischem Licht lesen, den Raum im Dunkeln, und nur die Seite beleuchtet.“
Praxis: Seite 222 „Iras jüngste Schwester …“ Lange traumhaft. Nach 25 Seiten werden meine Beine restless, ich schwinge meine Knie hin und her und in der Mitte zusammen. Vor Gemütlichkeit rutsche ich immer weiter im Sessel runter, stemme mich nach 50 Seiten wieder hoch. Der Roman endet auf Seite 298: „streaming, rooting, flowing“.
Dauer: 1 Stunde, 59 Minuten,
8 Sekunden. Ich hätte länger im Sessel bleiben können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Einigung über die Zukunft von VW
Die Sozialpartnerschaft ist vorerst gerettet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen