Lesefrust durch dicke Bücher: Prinzipien der Wälzer

Die Begeisterung für Literatur bleibt in manchem dicken Buch stecken. Weniger kann da einen Gewinn an Leselust bedeuten. Ein Essay.

Aufgeschlagene Bücher liegen auf einem Rasen.

In überlangen Büchern versandet man oft Foto: Yevgen Romanenko/getty images

Bei der Lektüre neu erschienener Bücher, egal ob Sachbuch oder Belletristik, muss ich manchmal an das gute Besteck meiner Mutter denken. Es stammt von einer klangvollen Marke und ist für die höheren Anlässe gedacht, und diese besondere Wertigkeit schlägt sich im Erscheinungsbild nieder.

Die Griffe von Gabel und Löffel sind breiter und dicker, der Griff des Messers nicht einfach flach, sondern viel voluminöser, damit das Besteck die Hände, von denen es gehalten wird, besser ausfüllt. Außerdem ist es weit schwerer als das Essgerät, was mir üblicherweise in die Hände kommt. Sein Wert drückt sich aus in Volumen und Gewicht.

Nun zeigt dieses gute Besteck nach einiger Zeit des Gebrauchs aber einen Mangel. Über die Jahre hat sich im Innern von manchem voluminösen Messergriff etwas gelöst, nämlich ein billiges Stück Metall, das dem glänzenden Hohlkörper sein Gewicht verleiht. Es klimpert nun herum bei jedem Happen, den man von der Bratenscheibe schneidet. Erst dieses störende Klimpern offenbart, dass sich das gute, weil schwere Besteck von dem leichten bloß unterscheidet durch seinen Ballast und seine Hohlkörper.

Und manchmal erscheint es mir auch so bei neu erschienenen Sachbüchern und belletristischen Werken. Dann sehne ich mich nach dem leichten Besteck, bei dem die Gabeln nicht mit weniger Zinken stachen und das Messer vielleicht sogar etwas schärfer schnitt.

Dies gilt nicht pauschal für jedes gute Besteck und alle dicken Bücher, denn selbstverständlich gibt es viele unter ihnen, die massiv gefertigt sind, durchgehend aus bestem Material, aber allzu oft gerät man an Bücher, von denen man rasch den Eindruck gewinnt, dass sie weit kürzer weit besser gewesen wären. Ich lese selten ein Buch, bei dem ich nicht während der Lektüre das Gefühl habe, dass ganze Absätze, Seiten, Kapitel gestrichen gehören, weil sie redundant sind, ge­schwätzig, banal­ oder einfach so schwach, dass sie dem übrigen Text schaden.

Das Lesezeichen wie festge­tackert

Und während erstaunlich viele Rezensentinnen und Rezensenten kaum ein Problem mit diesem Ärgernis haben, es immer wieder Buchbesprechungen zu lesen und hören gibt, die in großem Lob münden und nur als kleinen Haken anmerken, dass das Buch zweihundert Seiten kürzer hätte sein müssen, ist für mich die Überlänge vieler Bücher die Hauptquelle meiner Lese­frustration, der Hauptgrund, warum ich weit weni­ger Bücher anfange und noch weniger zu Ende lese, als ich es mir eigentlich wünschen würde.

Und auch im Gespräch mit Freunden und Bekannten, bei denen Bücherlesen nicht zum Beruf gehört, höre ich immer wieder, dass sie in einem Buch nicht vorankämen, irgendwo in dessen Längen versandet seien – das Lesezeichen wie festge­tackert – und deshalb auch kein weiteres läsen.

Freud hat sich zumindest noch entschuldigt. „Am Ende eines solchen Weges angelangt, muss der Autor seine Leser um Entschuldigung bitten, dass er ihnen kein geschickter Führer gewesen, ihnen das Erlebnis öder Strecken und beschwerlicher Umwege nicht erspart hat. Es ist kein Zweifel, dass man es besser machen kann.“ So beginnt das Abschlusskapitel vom „Unbehagen in der Kultur“, einem klein gehaltenen Buch. Heute entschuldigt sich niemand mehr dafür auszuufern, im Gegenteil, wer sich kurzfasst, ist verdächtig.

Kunstvolle Kürze versus Volumen

„People love short books!“, versicherte mir ein Professor aus Cambridge und brillanter Buchautor, als er mich dazu ermunterte, aus meiner Doktorarbeit ein Sachbuch zu machen. Viele Jahre zuvor, als ich aus einer Hausarbeit einen wissenschaftlichen Artikel machen wollte, antwortete mir der betreuende deutsche Professor auf meine Frage, was dem Manuskript denn noch fehle, mit: „Volumen.“ Dieser knappe Kulturvergleich zeigt schon an, dass die Wertschätzungsnormen des deutschsprachigen Raums das kunstvoll kurze Buch nicht gerade begünstigen.

Schon Walter Benjamin gab in der „Einbahnstraße“, einem eindeutig kurzen Buch von 1928, ironische Tipps für „die Kunst, dicke Bücher zu machen“. Nummer vier: „Für Begriffe, über die nur in ihrer allgemeinen Bedeutung gehandelt wird, sind Beispiele zu geben: wo etwa von Maschinen die Rede ist, sind alle Arten derselben aufzuzählen.“ Nummer fünf: „Alles, was a priori von einem Objekt feststeht, ist durch eine Fülle von Beispielen zu erhärten.“ Nummer sechs: „Zusammenhänge, die graphisch darstellbar sind, müssen in Worten ausgeführt werden. Statt etwa einen Stammbaum zu zeichnen, sind alle Verwandtschaftsverhältnisse abzuschildern und zu beschreiben.“

Zu den von Walter Benjamin versammelten schriftstellerischen Unarten kommen heutzutage noch ganz handfeste Gründe für dicke Bücher, denn in vielerlei Hinsicht belohnen die Arbeits- und Anreizstrukturen nicht Dichtung, sondern Blähung. So ist dank Textverarbeitungsprogrammen der Umstand des ­Schreibens von Hand weit­gehend verloren gegangen.

Während ein Satz früher bei jedem Abschreiben auf die Probe gestellt wurde, ob er die Mühen der Hand rechtfertigt, in Vorwegnahme der möglichen Mühen von Leserin und Leser, wird heute jeder Satz in Word leicht kopiert und verschoben, und Überwindung kostet es einzig noch, ihn zu löschen. Das Schreiben wird so dem ­Lesen fremd, die Bücher werden dick, die Lektüre langweilig.

Zur Entsorgung bestimmter Aushub

Wo früher Trägheit Kürze begründete, ist sie heute mit Länge verbunden. Der Autor und die Autorin ersparen sich die Mühe, streng mit sich selbst zu sein, die narzisstische Kränkung, sich einzugestehen, dass das meiste Geschriebene bloß der zur Entsorgung bestimmte Aushub ist, der bei der Grabung nach Wertvollem anfällt.

Dieses Phänomen glaube ich besonders bei erfolgreichen Sachbuchautoren zu beobachten, dass nämlich ihre Bücher mit fortschreitender Karriere bei gleich bleibender Inhaltsmenge immer dicker werden oder aber bei gleichem Umfang immer mehr an Dichte einbüßen. Aber auch die Seitenzahl der Harry-Potter-Romane steigt streng monoton bis zum „Orden des Phönix“ – bei gleichzeitiger Abnahme des Unterhaltungswerts, wie mir aus vertrauenswürdiger Quelle versichert wurde.

Ein Buch mit diesem Namen drauf verkauft sich sowieso, und man will Bestseller-Autor und -Autorin auch nicht durch zu rabiates Kürzen erzürnen. Und dann ist da natürlich noch die Fixierung auf den Roman als angeblich einzig verkäufliche Form. Dabei wären viele langweilige Romane womöglich kurzweilige Novellen geworden (oder sind es sogar in einem früheren Stadium gewesen), und auch eine Kurzgeschichte wäre ja keine Schande. Oder um ein Phänomen der letzten Jahre hinzuzunehmen: Selbst ein knappes Sachbuch kann viel zu lang sein, wenn es besser nur ein Blogeintrag oder, schlimmer noch, ein Tweet geblieben wäre.

Schwere Kost mit reichlich Zellstoffmasse

Obendrein hat man mit dicken Schinken bei der Kritik mitunter einen­ Stein im Brett. Wenn eine Neuerscheinung als „Schmaler Band“ bezeichnet wird, dann soll die naheliegende Abwertung metaphorisch mitschwingen: Das dünne Werk ist durchschaubar und oberflächlich, die Tiefe geht ihm ab, es ist ein Leichtgewicht, dessen Autorin oder Autor die Mühen eines schweren, umfangreicheren Werkes gescheut hat. Ein umfangreiches Buch ist hingegen schnell ein gewichtiges Werk. „Monumental!“, tönt es verlässlich aus den Kritiken.

Selten reagieren Kritikerinnen und Kritiker spontan wie der im Liegestuhl ruhende Vitali Klitschko in der alten Milchschnitte-Werbung, als ihm von seinem Bruder ein dicker Band auf den Bauch geworfen wird: „Schwere Kost!“ Und das gilt nicht nur für die Belletristik, auch die Gegen­wartsdiagnose eines Soziologen oder die Epochendarstellung einer Historikerin müssen zur ziegelsteinschweren Untermauerung der Ambition natürlich reichlich Zellstoffmasse auf die Waage bringen.

Vielleicht ist dabei auch zu bedenken, dass die meisten Bücher verschenkt werden. Mit einem umfangreichen Werk, vom Buchhändler als Geschenk verpackt, kommuniziert man den eigenen Anspruch, die gewichtige Wertschätzung für den Empfänger, und muss gleichzeitig nicht fürchten, seine eigene Zeit an einen hemmungslos ausufernden Text zu verschwenden.

Überflüssige Textsümpfe trockenlegen

„Schon ausgelesen, wann kommt das nächste?“, ist doch der Ausruf, den sich Autor, Händlerin und Verlag von Leserinnen und Lesern wünschen sollten, statt: „Hab’s angefangen. Hab’s rumliegen. Bin noch nicht durch.“ Nicht nur für den individuellen Erfolg, sondern für die ganze Branche könnte das förderlich sein: Die erwähnten Bekannten und Freunde, die in einer zähen Passage eines dicken Buches feststecken, würden viel eher zum neuen und nächsten Buch greifen, wenn alle überflüssigen Textsümpfe trockengelegt würden, die den Weg durch das Buch behindern.

Und um nicht falsch verstanden zu werden: Es soll nicht darum gehen, die schöne Literatur auf höhere Handlungsschlagzahl zu tunen, mehr Action und mehr Drama in eine Geschichte zu packen, sondern darum, zu erkennen, wo eine Prosa leerläuft, und wo sie mit Reflexion, Beobachtung, Fantasterei, Stimmung und Klarheit gesättigt und für Leserinnen und Leser lohnend ist. Zu viele Bücher erscheinen heute in einer Form wie die frittierten Garnelen, die ich mal am Schwarzen Meer bestellt hatte. Sie rochen gut, weckten von außen den Appetit, doch unter der Panade hatten sie Köpfe und Beine und Schale.

Der Koch war faul gewesen und ich musste fummeln und pulen, gab bald auf und kam nie wieder. Er hat einen Kunden verloren. Genauso ist es mit den allzu dicken Büchern dieser Tage, nur dass man sich an ihnen nicht die Finger fettig macht.

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