Zwei Streetworker beugen sich auf einem öffentlichen Platz zu zwei anderen Menschen herunter, die offenbar obdachlos sind

Foto: Sophie Kirchner

Streetworker über Wohnungslosigkeit:„Das pure Überleben“

Immer mehr wohnungslose Menschen sind psychisch krank. Zwei Streetworker berichten, wie ihre nicht auf Zwang ausgelegte Methodik an ihre Grenzen stößt.

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26.2.2023, 09:04  Uhr

wochentaz: Frau Kienreich, Herr Kretschmann, als StraßensozialarbeiterInnen erleben Sie eine verheerende Entwicklung. Worum geht es?

Sarah Kienreich: An manchen Orten in Berlin beobachten wir inzwischen, dass bis zu 80 Prozent der obdachlosen Menschen dem Anschein nach psychisch massiv erkrankt sind. Diese Personen haben in den letzten drei Jahren als sichtbare Gruppe deutlich zugenommen. Ich höre auch im Austausch mit anderen Trägern, dass gerade in den letzten Monaten die Probleme überall dieselben sind und die Hilflosigkeit auch. Vor allem für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Drogenkonsum gibt es fast gar keine Angebote. Es gibt einfach keine Orte, die diese Leute aufnehmen.

Tino Kretschmann: Wir sehen diese Menschen, aber wir können sie mit unserer Arbeit überhaupt nicht erreichen.

Inwiefern unterscheiden sie sich von anderen obdachlosen Personen?

Kretschmann: Normalerweise braucht es einen gewissen Grad an Organisiertheit, um auf der Straße überleben zu können: Schlafplatz, Essen, Geld, Waschmöglichkeit und so weiter. Was wir jetzt aber immer mehr sehen, sind Menschen, die ohne Taschen, ohne Schlafsack und in der Regel ganz allein unterwegs sind. Die offenbar über lange Zeiträume keine hygienischen Maßnahmen nutzen und die vor allem kaum oder gar nicht ansprechbar sind. Viele sind nicht einmal mehr in der Lage, zu schnorren oder Flaschen zu sammeln. Diese Menschen ernähren sich aus Mülleimern.

Das ist eine krasse Verelendungsstufe, über die wir hier sprechen.

Kienreich: Das ist die Realität. Es gibt eine Art Rangordnung auf der Straße. Aber diese Menschen kommen darin überhaupt nicht mehr vor. Die sind schon völlig weg vom Sichtfenster.

Aber wir sehen sie doch, wenn wir durch die Straßen der Großstädte gehen …

Kretschmann: Man nimmt sie sicher wahr. Aber sobald jemand anfängt, herumzuschreien oder sich in einem völlig desolaten hygienischen Zustand befindet, machen doch die meisten Menschen einen großen Bogen. Was bis zu einem gewissen Punkt ja auch nachvollziehbar ist.

Kienreich: Wenn diese Menschen zu auffällig werden, werden sie vom direkten Umfeld auch aktiv vertrieben.

Eine jüngere Frau mit Jacke sitzt auf einer Bank im öffentlichen Raum

Sarah Kienreich, 28, arbeitet seit drei Jahren als Streetworkerin mit obdachlosen Erwachsenen beim Verein „Gangway“ in Berlin Foto: Sophie Kirchner

Wie lange kann ein Mensch in solch einem Zustand auf der Straße überleben?

Kienreich: Erstaunlich lange. Menschen sind oft unglaublich zäh. Aber das ist nur noch das pure Überleben. Sonst nichts mehr.

Warum gibt es immer mehr Menschen, die so auf der Straße leben?

Kretschmann: Es gibt die Vermutung, dass die aktuelle Entwicklung, vor allem in den Ballungsgebieten, mit dem Wohnungsmarkt zusammenhängt. Vor zehn oder fünfzehn Jahren war ein Vermieter noch toleranter gegenüber Mieter*innen, die Auffälligkeiten zeigten. Heute ist es doch so, dass die Menschen schnell aus ihren Wohnungen rausfliegen, wenn die Miete mal nicht kommt oder es Beschwerden der Nach­ba­r*in­nen gibt. Wir sehen jetzt auf der Straße, was sonst hinter verschlossenen Türen stattfand. Und auf der Straße wird es dann immer schlimmer.

Straßensozialarbeit ist das niedrigschwelligste Angebot der Obdachlosenhilfe. Sind Sie nicht genau für diese Menschen zuständig, die sonst nirgendwo mehr ankommen?

Kienreich: Aus gesellschaftlicher Sicht fühle ich mich in der Verantwortung, weil es niemand anderen gibt. Aus professioneller Sicht habe ich weder die Ausbildung dafür, noch passt das zu meinem Auftrag. Wir können keine Diagnosen stellen, wir sind keine Mediziner*innen. Aber es gibt faktisch keine Institution, die auf der Straße Diagnosen stellt. Außerdem sind wir Stra­ßen­so­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen bestimmten Standards verpflichtet. Wir arbeiten akzeptierend, immer ohne Zwang, auf der Grundlage von Beziehungs- und Vertrauensarbeit.

Kretschmann: Und genau da stoßen wir an die Grenze. Wir unterstützen Menschen, die auf der Straße leben. Aber den Auftrag geben sie uns letztlich selbst und zwar sehr direkt: Ich habe kein Geld, ich habe keine Wohnung, ich bin krank, ich brauche einen Schlafsack und so weiter. Lasst mich in Ruhe, ist auch eine klare Ansage. Aber was machen wir, wenn eine psychisch erkrankte Person ihre Bedürfnisse gar nicht mehr formulieren oder sichtbar machen kann?

Eine psychiatrische Behandlung erfolgt in Deutschland nur auf Wunsch der Person oder bei Eigen- und Fremdgefährdung.

Kretschmann: Die gesetzlichen Grenzen sind aufgrund unserer deutschen Geschichte und auch aufgrund der Hospitalisierungsdiskussion der 1980er Jahre nachvollziehbar eng. Die Freiwilligkeit in der psychiatrischen Behandlung ist hart erkämpft. Aber es gibt diese wachsende Gruppe von Menschen auf der Straße, für die es keinen Ort gibt und wir alle – auch wir Sozialarbeiter, die sehr kritisch mit jeder Form von Zwang umgehen – müssen uns fragen, wie weit der Begriff von Freiwilligkeit geht, den wir akzeptieren. Wie freiwillig ist es, dass diese Menschen auf der Straße vegetieren?

Kienreich: Der Punkt ist doch nicht die Freiwilligkeit, sondern die Entscheidungsfähigkeit. Wenn eine Person nicht fähig ist, Entscheidungen zu treffen, dann wäre es wünschenswert, dass es eine Instanz gibt, die diese Fürsorge vorübergehend übernimmt. Selbstverständlich mit den geringsten Mitteln des Eingriffs, die nötig sind. Es ist bekannt, dass psychische Erkrankungen, die nicht diagnostiziert und behandelt sind, einen schlechten Verlauf haben. In diesem Fall ist das Argument der Freiwilligkeit ein Freibrief in die Verelendung von Menschen.

Was bräuchte es also?

Kienreich: Diese Menschen brauchen eine Stelle, die sich für sie verantwortlich fühlt. Nicht nur theoretisch, sondern ganz praktisch. Die diese Menschen auf der Straße aufsucht und mitnimmt an einen Ort, an dem sie so ankommen können, wie sie sind. Ich finde, die Situation, die wir auf der Straße erleben, ist ein Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Zustände. Der Druck, der auf den einzelnen Individuen lastet. Du musst etwas schaffen, du musst etwas beitragen, dieses und jenes wird von dir erwartet. Du hast so zu funktionieren, ansonsten bist du kein wertvolles Mitglied dieser Gesellschaft und dementsprechend gibt es auch kein Angebot für dich.

Ein mittelalter Mann vor grauem Hintergrund

Tino Kretschmann, 50, engagiert sich sozialpolitisch für Veränderungen im Interesse der Zielgruppe, mit der er arbeitet. Er ist seit zwei Jahren Streetworker beim Berliner Verein „Gangway“ Foto: Sophie Kirchner

Wie sieht es mit Wohnungsloseneinrichtungen aus?

Kienreich: In den meisten Einrichtungen müssen sich die Menschen bewähren, sie müssen sich an Regeln halten, sie müssen fast immer auch abstinent sein. Wenn ich aber einer Person, die eh schon isoliert ist und nicht für sich selbst sorgen kann, auch noch ihre Droge, ihre Selbstmedikation wegnehme, dann ist das entwürdigend. Es braucht ein Angebot der echten Beheimatung, erst dann gibt es wieder eine Perspektive für diese Menschen.

Es gibt inzwischen in einigen Städten Housing First – ein Angebot, bei dem Menschen fast voraussetzungslos mit einer eigenen Wohnung versorgt werden. Das ist doch Beheimatung.

Kretschmann: Viele Menschen, die wir auf der Straße als psychiatrisch auffällig erleben, sind vermutlich allein gar nicht wohnfähig. Housing First setzt das aber schon voraus. Jemand, der zum Beispiel schizophren ist, muss erst mal wieder in eine Situation gebracht werden, Entscheidungen treffen zu können. Da sprechen wir zum Beispiel über Medikamentengabe und kommen wieder zurück zu der Frage: Wie viel Zwang braucht es? Wer müsste den umsetzen? Welche gesetzlichen Grundlagen wären dafür nötig? Wie vereinbaren wir das mit den Menschenrechten?

Kienreich: Es geht nicht in allererster Linie um Medikamente, sondern um einen Schutzraum, in dem eine Basis geschaffen wird, die überhaupt wieder Beziehung ermöglicht. Allein die Vorstellung ist absurd, das könne irgendwie funktionieren bei einem Menschen, der zum Beispiel psychotisches Verhalten zeigt und auf der Straße lebt.

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Also plädieren Sie dafür, dass es wieder so etwas wie geschlossene Stationen für Menschen gibt, die nicht mehr für sich sorgen können?

Kretschmann: Man hat zu Recht diese ganzen geschlossenen Stationen abgeschafft, wo Menschen nur verwahrt wurden, im Grunde gefangen waren. Die Frage ist aber jetzt: Wie kommen Menschen wieder in das System?

Ja, wie?

Kretschmann: Das wissen wir nicht. Wir sind eigentlich nur die Melder. Wir erleben eine gesellschaftliche Entwicklung, die unten auf der Straße stattfindet und sicherlich ihren Anfang ganz woanders hat. Wir versuchen der Politik und der Gesellschaft zurückzumelden: Da fehlt was, da braucht es was. Wir wissen nicht, was wir mit den Leuten machen sollen. Wir kommen mit unseren Möglichkeiten der Straßensozialarbeit nicht weiter, weil die Bedarfe ganz andere sind und weil es jemanden braucht, der Entscheidungen trifft, die entgegen der Prinzipien der Straßensozialarbeit auch in Teilen mit Zwängen verbunden sind. Das ist eine gesellschaftliche und politische Debatte, die geführt werden muss.

Wenn es ein Angebot geben soll, das dem Einzelnen gerecht wird, klingt das nach sehr teuren Maßnahmen.

Ein Einkaufswagen steht neben mehreren Schlafwagen in einer Unterführung

Rund um den Alexanderplatz in Berlin ist Obdachlosigkeit jeden Tag präsent Foto: Sophie Kirchner

Kienreich: Wir reden über Menschen mit multiplen Problemlagen und hohem Hilfebedarf, sogenannte High Need Clients. Das heißt, da muss viel Geld in die Hand genommen werden, da müssen viele Ressourcen mobilisiert werden, um überhaupt die Möglichkeit zu schaffen, dass die Menschen ihre Fähigkeiten und ihr Potenzial ausschöpfen können. Und auch dann werden wir nicht alle erreichen. Aber die Frage, ob wir das machen, ist keine Frage von Kosten, sondern eine zutiefst moralische: In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!

Kretschmann: Nur weil das jetzt Geld kostet oder wir noch kein Verfahren dafür haben, nehmen Po­li­ti­ke­r*in­nen die Hände hoch und machen nix und gucken zu, wie diese Menschen dahinvegetieren? Und dann wird jahrelang darüber diskutiert, dass es mehr werden? Und keiner fühlt sich verantwortlich? Moralisch ist das echt eine Frechheit.

Wir diskutieren vor dem Hintergrund, dass die Länder der Europäischen Union bis 2030 die Obdachlosigkeit überwunden haben sollen …

Kretschmann: In den Großstädten kann das nur gelingen, wenn viel mehr in den Wohnungsmarkt eingegriffen wird. Das sehe ich überhaupt nicht.

Kienreich: Letztlich ist die Frage, ob Wohnungslosigkeit beendet werden kann oder nicht, eine Umverteilungsfrage. Es ist leider so, dass Menschen, die reich sind, immer reicher werden auf Kosten einer immer breiteren Gesellschaftsschicht. Und diese breitere Gesellschaftsschicht unterteilt sich immer mehr. Es gibt Menschen, die arm sind und es gibt Menschen, die ärmer sind als arm – was es eigentlich ja gar nicht gibt. Und da ist eben die Frage: Wollen wir so leben? Ja oder nein? Wenn nicht, was wollen wir verändern? Und wer ist bereit, etwas zu geben und kann auch etwas geben? Ich würde mir wünschen, dass wir uns von dieser Wachstumsgesellschaft mehr in Richtung Gedeihen entwickeln würden.

Was bedeutet es für Sie persönlich, täglich mit Menschen konfrontiert zu sein, an die Sie selber gar nicht mehr herankommen, die aber eigentlich am dringendsten Unterstützung benötigen?

Kienreich: Ich muss immer und immer wieder meine eigenen Ideale hintanstellen. Ich muss mich einem gewissen Scheitern hingeben, das noch weit über das „normale“ Scheitern hinausgeht, das ich jeden Tag erlebe und das mit dieser Arbeit sowieso schon verbunden ist.

Kretschmann: Wer sagt schon gern, dass er hilflos ist in seinem Job? Aber an der Stelle muss ich einfach ganz klar sagen: Ja, wir kommen an Grenzen. Wir versuchen, diese professionelle Hilflosigkeit gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit klar zu benennen, damit sich etwas verändert. Aber ganz ehrlich: Wenn ich täglich Menschen sehe, denen ich nichts anbieten und auf der Beziehungsebene nichts geben kann und das auch niemand anderer macht … Es ist manchmal einfach nur zum Kotzen.

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