Antizyklische Wirtschaftswissenschaften: Hart am Wind gilt Lee vor Luv

Wirtschaftswissenschaftler sind stolz auf ihr antizyklisches Ding. Doch auf dem Land ist das überhaupt nichts Neues.

Nahaufnahme: Mensch liegt in Eissegler

Eissegeln ist kein Hexenwerk, aber doch komplizierter als zum Beispiel ein VWL-Studium Foto:

Es gibt Wissenschaften – besonders jene über Volkswirtschaften und/oder Gehirne – die in einem ganz eigenwilligen Mix aus Abzählerei, Alltagsverstand und Spökenkieken ständig wieder irgendwelches Zeug zur jeweils neuesten Erkenntnis hochjazzen, das meine Oma schon wusste. Und das, obwohl Oma zwar superlieb war, unterm Strich aber ehrlich gesagt insgesamt eher wenig wusste. Na ja. Ich komme gerade drauf, weil ich neulich hinter zwei Nachwuchsvolkswirten in der Tram Richtung Uni saß und ihrem kruden Allerlei folgen musste.

Spontane Eingebungen

Sie tauschten Allgemeinplätze zu antizyklischer Fiskalpolitik aus, die nun auch nicht neu ist, aber offenbar auch heute noch Erstsemester bewegt und irgendwie halt auch mich. Vielleicht, weil sie so lustig kontraintuitiv ist und man gerade in der Branche ja sonst gut damit fährt, spontane Eingebungen als krisenfeste Programme zu verkaufen.

Interessant wird es, wenn das Begriff gewordene Gequatsche von Ökonomen und Ökonominnen erst in den Alltag einzieht: „Antizyklisch“ hört man ja doch öfter mal. Manchmal sogar in Witzen. Der Sohn einer Freundin wollte mal mitten im Sommer mit schicker, aber auch viel zu dicker Jacke raus und konterte alle freundlichen Hinweise mit dem Satz, man müsse sich „antizyklisch kleiden, Mama!“

Hier draußen auf dem Land handelt man sogar antizyklisch. Ab Mai wird in der Schonung der Weihnachtsbaum vorgemerkt – und erblickt irgendwo auf der Weide ein süßes Kälbchen sein erstes Sonnenlicht, kann man den Tafelspitz schon vorbestellen. Apropos Fortpflanzung: Selbst in der Großstadt soll es ja Menschen geben, die sich paaren, vorsätzlich zu Zeiten, in denen es zyklisch gesehen überhaupt gar keinen Sinn macht.

Kontrolle über den Kalender

Man muss die Dinge planen, wenn sie gerade nicht akut sind, sonst bringt man es nicht weit im Leben. Mich jedenfalls wundert überhaupt nicht, dass die religiösen Führer und Führerinnen der Vorzeit sich lange vor Speisegeboten und Geburtenkontrolle erst einmal der Kalender bemächtigten.

Stichwort Gebote: Vor zwei Wochen habe ich einen Schein fürs Eissegeln gemacht, um nun also auch legal mit hundert Sachen auf einen Holzkanten geschnallt übers Eis zu brettern und (vor allem bei mir selbst) Angst und Schrecken zu verbreiten. Da fiel gleich zweimal der Hinweis, meine Bemühungen seien „antizyklisch“, weil erstens ja bald schon wieder Sommer und zweitens ja Klimakatastrophe wär.

Aber selbst wenn. Ich bin überzeugt, dass es viel wichtiger ist, ab und an etwas zu lernen – als die Frage, was genau man nun lernt. Ich weiß nun jedenfalls eine Menge über das Hartwassersegeln, insbesondere über die Vorfahrtsregeln. Die haben es in sich, zumal auf Regatta andere Vorschriften gelten als im Normalbetrieb. Das ist selbst für Segelverhältnisse kurios, aber eben auch interessant.

Falls Sie mal mitreden oder gar steuern müssen: Wer in der Regatta „am Wind“ fährt, hat Vorfahrt von denen, die „im Wind“ segeln und sich dementsprechend „freihalten müssen“. Haben inzwischen aber beide größtenteils Rückenwind und fahren zudem den gleichen Kurs, dann gilt Lee vor Luv – in der Gegenrichtung Luv vor Lee. Und wenn Sie selbst diese Grundbegriffe gerade zum ersten Mal hören, dann geht es Ihnen exakt so wie mir zehn Stunden vor dieser Prüfung.

Es ist wirklich gar nicht so einfach, wie man meinen sollte, und gerade für Landratten und Nicht­seg­le­r:in­nen erheblich komplizierter als – sagen wir beispielsweise Volkswirtschaftslehre. Nur, dass Sie mehr davon haben. Selbst, wenn weit und breit kein Eis in Sicht ist. Außerdem gilt jetzt: Wenn das Wetter bereit ist, bin ich es auch.

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Jahrgang 1982, schreibt aus dem Bremer Hinterland über Kultur und Gesellschaft mit Schwerpunkten auf Theater, Pop & schlechter Laune.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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