Ausstellung von indischer Fotografin: Bilder gegen die Behäbigkeit
Dayanita Singh, die große Fotografin Indiens, wird mit einer Retrospektive in der Münchener Villa Stuck geehrt. Zu sehen sind (semi-)private Porträts.
Wenn sie fotografiert, trägt Dayanita Singh ihre Kamera in der Körpermitte, vor dem Bauch. Die Linse bleibt immer in Bewegung.
Die indische Fotografin richtet sie auf Tänzer und Eunuchen, auf Verwandte, Tiere oder Kinder. Dayanita Singh tanzt mit ihren Motiven, als wäre die Mittelformatkamera Teil ihres Körpers geworden. Leichthändig sprengt sie die Kasten der indischen Gesellschaftsordnung – nur um ihre Fotografien in kleine bis mittelgroße Teakholzrahmen zu bringen, die wiederum mobil genug sind, um ständig neu angeordnet, neu gelesen und in neue Sinnzusammenhänge gesetzt zu werden.
Ihr Tanz besiegt die Behäbigkeit der indischen Tradition. Ihre Bilder spiegeln das Leben, und in der Abfolge entstehen fast filmische Dramaturgien, die von Grenzen und vom Ausbruch erzählen. Die Ausstellung „Dancing with my camera“ in der Villa Stuck ist die bisher umfassendste Retrospektive von Dayanita Singh, die zu den bedeutendsten Künstlerinnen Indiens zählt.
Aufklärerische Fotografie
Vor München war sie bereits im Gropius Bau in Berlin zu sehen. Dort fiel die Eröffnung mit der Vergabe des renommierten Hasselblad-Awards an die 62-Jährige zusammen. In der Villa Stuck nun stößt ihre aufklärerische Fotografie auch auf den düsteren Jugendstil des namensgebenden Malers Franz von Stuck.
Dayanita Singh: „Dancing with my camera“, Museum Villa Stuck, München. Bis 19. März 2023. Katalog 30 Euro
Dayanita Singhs Familie gehörte der indischen Oberschicht an. In New York hat Singh Dokumentarfotografie und Fotojournalismus studiert, und der filmische Charakter ihrer Bilderserien ist zu ihrem markanten Stilstatement geworden. In den Zeitungen der Londoner Times und der New York Times fand sie früh journalistische Auftraggeber für ihre Fotoreportagen über das indische Kastensystem und dessen Ausgegrenzte. Bis heute hat sie darüber 14 Bücher veröffentlicht – und fotografiert immer noch analog, doch lässt sie Negative ihrer Abzüge mittlerweile scannen und digital ausbelichten.
Die Retrospektive zeigt Schwarz-Weiß-Fotografien, die seit den 1980er Jahren entstanden sind: Mit ihrer Hasselblad begleitet Dayanita Singh darin teils Personen aus ihrem direkten Umfeld und ihrem engsten Familienkreis (wie ihre Mutter), teils konzentriert sie sich auf thematische Schwerpunkte, oft umgesetzt als Langzeitstudien. Sie porträtiert indische Musiker, darunter ihren künstlerischen Mentor, den Tabla-Spieler Ustad Zakir Hussain.
Fast vierzig Jahre lang dokumentiert Singh auch ihre Freundin Mona Ahmed: Die Transgender-Eunuchin lernt sie kennen, als sie Ende der achtziger Jahre für die Times eine Reportage über Intersexuelle und Transgender in Indien umsetzt. Mona lebt bis zu ihrem Tod 2017 auf einem muslimischen Friedhof in Neu-Delhi. Sie ist doppelt verstoßen – von ihrer Familie wie von der Gemeinschaft der Eunuchen.
Immer wieder taucht ihr Gesicht, ihr tanzender Körper in der Ausstellung auf. Auch Singhs zweites Buch, „Myself Mona Ahmed“ (2001), ist der Freundin gewidmet; am Beispiel ihrer Protagonistin erzählt Singh das Leiden an Geschlechterrollen.
Sie lichtet Reichtum in Kalkutta genauso ab wie ein Mädchen-Ashram in Benares. Unbeschwert wirken diese Aufnahmen, spontan und lebensfroh, der Titel lautet kokett „Little Ladies Museum“. Singh zeigt uns eine fremde Welt: Mädchen posieren herausgeputzt wie kleine Puppen zwischen gediegenen Polstermöbeln. Manchmal wird die Fotografin Teil von flüchtigen, fröhlichen Momenten. Eine Zeitlang aber verliert sich Dayanita Singh in Depressionen und wendet sich ganz von Menschen ab. Dann fotografiert sie ausschließlich ihre Tiere, zum Beispiel ihren Hausaffen – den, so erzählt die Bildunterschrift, schließlich ihre Nachbarn vergiften.
Kleine Schreine
Für ihre Aufnahmen baut die Künstlerin kleine Schreine, Leporellos, Türme und Paravents aus Teakholz. Ein Teil der Bilder zieht sich im Neubau raumhoch über zwei Etagen – wie ein Feed zum Anfassen. Manche Fotografien sind auf vier Paravents in den historischen Räumen der Villa Stuck zu sehen, die der Secessions-Maler Franz von Stuck um 1898 mit selbstgebauten Möbeln, schweren Stoffen und Goldreliefs auf dunklen Wänden zu einem üppigen Gesamtkunstwerk ausstaffiert hatte und die bis heute erhalten sind.
Singhs Fotos in den Teak-Paravents werden hier in einen losen Sinnzusammenhang zu den opulenten Malereien des Münchner Malerfürsten gesetzt: Vor seinen Bücherregalen mit Jugendstil-Kunstkatalogen werden Aufnahmen mit vergilbten Blätter- und Aktenstapeln gezeigt, vor seinen Öl- und Pastellkreidenporträts seiner Tochter Mary von Stuck räkeln sich indische Mädchen auf Diwanen und kichern, vor Stucks Panflöte spielende Zentauren setzen die Kuratoren jene von Dayanita Singhs Fotografien, auf denen Musiker traditionelle indische Instrumente spielen.
Einige Stücke der modularen Ausstellung aber verbleiben in Koffern, die mitten im Raum stehen. So sind die kleinen Kunstdepots schnell zusammengepackt und einfach zu transportieren – und damit so beweglich wie die Inhalte, die drauf zu sehen sind.
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