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Soziale Arbeit in BerlinAm Willen der Kids orientiert

Die Evangelische Hochschule Berlin stellt einen Bericht über ein Modellprojekt vor: neue Wege für Kinder und Jugendlichen mit komplexem Hilfebedarf.

Manche junge Menschen können sich nur schwer auf Hilfsangebote und Bezugspersonen einlassen Foto: dpa

Berlin taz | Vor vier Jahren wurde in Berlin ein bundesweit einzigartiges Modellprojekt gestartet – eine Koordinierungsstelle, die neue, bedarfsgerechte Wege „für Kinder und Jugendliche mit komplexem Hilfebedarf“ sucht. Viktoria Bergschmidt, Professorin an der Evangelischen Hochschule Berlin hat das Modellprojekt seit 2020 zusammen mit einem Team des Studiengangs Soziale Arbeit evaluiert. Am Freitag wurde der Bericht vorgestellt.

Die Zielgruppe für einen komplexen Hilfebedarf beschrieb Bergschmidt so: Es handele sich um junge Menschen, die nach vielen Stationen in unterschiedlichen Einrichtungen aus der Jugendhilfe „herauszufallen“ drohten und stattdessen in der Psychiatrie, in Haft oder auf der Straße landeten.

Menschen wie André (Name geändert) zum Beispiel. Der Jugendliche hatte als Baby massive körperliche Misshandlungen durch seinen Vater erfahren, wurde nach der Trennung der Eltern von der Mutter vernachlässigt, bis es zur Inobhutnahme durch das Jugendamt kam. André litt unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und wurde gewalttätig, aus acht Einrichtungen wurde er deshalb verwiesen.

Aufgrund von Gewalterfahrungen, Missbrauch, Vernachlässigung und häufigen Beziehungsabbrüchen innerhalb der Familie und im Hilfesystem könnten sich junge Menschen wie André oft nur schwer auf Hilfsangebote und Bezugspersonen einlassen, so Bergschmidt. Bei Fällen wie diesen, wo die Jugendämter nicht mehr weiter wissen, setze die 2018 gegründete Koordinierungsstelle an.

Mitsprache für die Betroffenen

Die Koordinierungsstelle ist aus einem Bündnis zwischen Jugendämtern, freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe, Wohlfahrtsverbänden und der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie hervorgegangen. Die Stelle sucht nach neuen Wegen und Methoden, um herauszufinden, welche Schritte für je­de*n Ju­gend­li­che*n individuell sinnvoll sein könnten. Dazu gehört, ganz zentral, das Mitspracherecht der Betroffenen. „Die Hilfen werden konsequent orientiert am Willen und an den Vorstellungen der jungen Menschen entwickelt und umgesetzt,“ betonte Bergschmidt.

Neu an dem Ansatz sei nicht nur, dass die Jugendlichen einbezogen werden, sondern auch, dass ein externes Team aus Psych­ia­te­r*in­nen und So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen eine umfassende Fallberatung durchführt und dem zuständigen Jugendamt eine Hilfesetting vorschlägt. Auch die Umsetzung der Hilfen bis zur nachhaltigen Stabilisierung des Fallverlaufs werde von den „Externen“ koordiniert und begleitet, so die Professorin.

Wie dieses Hilfesetting dann aussieht, unterscheidet sich von Fall zu Fall: Bei André stabilisierte sich die Situation, als er in eine Wohnung mit 24-Stunden-Betreuung umzog. Seitdem kam es zu keinen Gewaltvorfällen mehr, André wird über eine Fernschule beschult und steht in engem Kontakt zu seinen Einzelfallhelfer*innen.

Schon 60 Fallberatungen

Bereits über 60 Fallberatungen wurden Bergschmidt zufolge mit der neuen Methodik durchgeführt – „mit dem Ergebnis, dass es auch in scheinbar „aussichtslosen Fällen“ gelingt, eine positive Wendung in der Verlaufsdynamik zu erreichen“.

Für das Forschungsteam der Evangelischen Hochschule steht fest: das Projekt ist erfolgreich und sollte verstetigt werden. Auch Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) sei davon überzeugt, sagte Bergschmidt. Im Doppelhaushalt 2022/23 sei die Koordinierungsstelle um eine dritte Stelle aufgestockt worden. Der Posten sei aber noch nicht besetzt.

Immer wieder wirkten sich fehlende finanzielle und personelle Ressourcen negativ auf die Umsetzung der erarbeiteten Konzepte aus, kritisierte Bergschmidt. Kostenvorbehalte hielten die verantwortlichen Jugendämter in manchen Fällen davon ab, den Empfehlungen der Koordinierungsstelle zu folgen.

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1 Kommentar

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  • Super Projekt! Sollte verstetigt werden!



    Bei der Beschreibung eines Einzelfalls im Artikel fällt jedoch auf, daß, nachdem das Baby vom Vater mißhandelt worden war, das Kind auch von der Mutter vernachlässigt worden ist, was aber offenbar vom Jugendamt nicht rechtzeitig bemerkt wurde.



    Sollte nicht vorkommen - ist hoffentlich nicht Ausdruck eines Confirmation Bias, der lautet, Mütter sind besser; zumindest hätte man vorbeugend genauer hinsehen müssen.



    Eigentlich müßte es ein Projekt Vorbeugung geben - im Grunde wäre das künftig das Wichtigere - ist aber schwieriger, man braucht sehr viel Wahrnehmungsvermögen und Mut!