„krieg und frieden“: ein tagebuch
: Angst vor der Front, Wut auf die Uniformen

Aus Moskau Xenia Babich

Über die Mobilisierung wurde in Russland seit Februar wenig gesprochen. So, als ob man Angst davor gehabt hätte, das Wort laut auszusprechen. Und das, obwohl allen klar war, dass diese Mobilisierung unmittelbar bevorsteht. Viele Rus­s*in­nen haben in den acht Monaten seit Kriegsbeginn versucht, ihr normales Leben weiterzuleben. Sie versuchten, die Repression in Russland zu ignorieren.

Am 21. September 2022 verkündete der russische Präsident, dass die bewaffneten Streitkräfte aus dem Friedens- in den Kriegszustand versetzt würden. Es war der Beginn einer Generalmobilmachung, von den Behörden „Teilmobilisierung“ genannt, um die Situation absichtlich im Vagen und Unklaren zu lassen. Aber diese Ankündigung hat wirklich alle Bewohner Russlands in einen absoluten Panikzustand versetzt.

Viele Männer haben zum ersten Mal seit vielen Jahren ihre Armeeausweise angeschaut und festgestellt, was sie sind: Soldaten, AK-74-Schützen, Funker und so weiter. Unter Schock haben meine Bekannten im Einberufungsalter das Land noch am selben Tag verlassen, in alle Länder, in die man noch visafrei einreisen konnte. Meine Freunde haben teilweise einfach alles stehen und liegen lassen. Sie haben ihre alten Eltern zurückgelassen, ihre Frauen, ihre kleinen Kinder. Sie haben ihren Job geschmissen, ihr Studium, ihre Ausbildung. Wie es weitergeht, weiß niemand von ihnen. Wer sie selbst unter den neuen Bedingungen sein werden, wissen sie ebenso wenig. Aber kein einziger von ihnen möchte und kann auch nur daran denken, dass sie andere Menschen angreifen oder auf sie schießen müssten. Aber das sind nur die Menschen aus meinem Bekanntenkreis. Auf den Straßen und in der Metro habe ich in Moskau auch die „anderen Russen“ getroffen. Diese „anderen Russen“ sind die Eltern und Brüder meiner Moskauer Freunde. Sie billigen diesen Krieg und viele von ihnen haben schon ihre Einberufungsbefehle entgegengenommen.

Auf Moskaus Straßen kann man Studenten treffen, die sich wie im Rauschzustand gegenseitig versichern, dass sie die „Hoffnung Russlands“ seien, und sie erörtern die „Frontlinie“, als ginge es um ein Computerspiel und nicht um das Gebiet eines anderen, unabhängigen Staates. Gestern habe ich in der Metro ein Telefonat eines jungen Wehrpflichtigen in Uniform mitangehört. Zuerst hatte ich Mitleid mit ihm. Aber als ich hörte, wie er einem Freund begeistert von Waffen erzählte, darüber, wie er im Schützenpanzer zur Übung mitfahre und wie man sich im Angriffsfall am „Boden festtackern müsse“, überkam mich wirklich das Grauen und eine schreckliche Angst, weil ich diese Menschen weder verstehe, noch diese Gedanken ans Töten in einer ihnen fremden, unabhängigen Ukraine werde verzeihen können.

Aus dem Russischen von Gaby Coldewey

Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung. Das Tagebuch ist online bei taz.de auf Russisch und Deutsch zu finden. Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der Verlag edition.fotoTAPETA im September herausgegeben.