Grüne Spitzenkandidatin in Niedersachsen: Die Ministerpräsidenten-Macherin
Julia Willie Hamburg hat sich den Respekt in Niedersachsens Politik hart erarbeitet. Jetzt buhlen zwei Kandidaten um eine Koalition mit ihren Grünen.
Oder in ihrer Art, lieber nicht zu viel Aufhebens um die eigene Person zu machen. Auch in ihren Nehmerqualitäten: Wenn sie etwa bei der Bäcker-Demo in Hannover stoisch blinzelnd auf der Bühne stehen bleibt und weiterredet, während sie minutenlang ausgebuht wird – bis es selbst dem Organisator unangenehm wird.
Großgeworden mit „Atomkraft? Nein, danke.“
Man übersieht das vielleicht, wenn man immer nur hört, wie sie als Oppositionsführerin im Landtag oder bei den Wahlkampfauftritten die großen Attacken reitet – mit Handkantenschlägen durch die Luft und vorwurfsvoll gespitztem Zeigefinger.
Natürlich weiß sie als erklärte Linke genau, wo das grüne Herz schlägt. Mit „Atomkraft? Nein, danke“ ist sie groß geworden und rückt davon nicht ab; sie läuft selbstverständlich bei jedem CSD mit, kümmerte sich lange um Familien, Kitas, Bildungspolitik.
Doch hinter den Kulissen sagt man ihr auch einen ausgeprägten Sinn fürs Machbare nach und die Fähigkeit, kluge Kompromisse auszuhandeln. Sie hat sich damit selbst beim politischen Gegner Respekt erworben und ist längst dem Label entwachsen, das ihr anfangs immer umhängte: „jüngste Landesvorsitzende/Landtagsabgeordnete/Fraktionsvorsitzende“ (in genau dieser Reihenfolge). Aber mit 36 Jahren gilt man auch nur noch in der Politik als jung.
Anders als beispielsweise Bernd Althusmann (CDU) argumentiert sie nicht ganz so gern und offensiv mit ihren zwei Kindern oder den Herausforderungen in der privaten Pflege – möglicherweise ahnt sie, dass das bei einer jungen Frau anders gewertet wird als bei einem 55-jährigen Mann.
Und dann tut sie es doch: Wenn ihr jemand damit kommt, dass es ihr an Lebens- und Berufserfahrung fehlt, zum Beispiel. Ihr Standardargument an dieser Stelle lautet: „Man kann nicht einerseits mehr junge Leute in der Politik sehen wollen und ihnen dann vorwerfen, dass sie keine zehn Jahre Berufserfahrung mitbringen. Irgendwann muss man sich da mal für eine Sache entscheiden.“
„Ich bin die Nummer eins“
Julia Willie Hamburg hat sich entschieden. Und wie ernst sie das meint, zeigt sich auch daran, dass sie sich in letzter Zeit verstärkt bei den sogenannten „harten“ Themen warmläuft: Wirtschaft und Verkehr. Als arbeite sie daran, sich ministrabel zu machen.
Auch die ewigen, nervigen Nachfragen danach, wer denn – rein hypothetisch! – aus der grünen Doppelspitze Ministerpräsident*in werden und in die Staatskanzlei einziehen würde, beantwortet sie mittlerweile mit einem knappen „Ich bin die Nummer eins“.
Das gehört zu den Kröten, die ihr Vize, der Ex-Landwirtschaftsminister Christian Meyer, schlucken musste. Der notorische Schnellsprecher und begabte Polemiker fügte sich, pflügt seither mit Verve durch den ländlichen Raum und positioniert sich vor allem als Klimaschutz-Experte. Dass auch er parteiintern dem linken Flügel zugerechnet wird, spielt keine Rolle, behaupten beide tapfer. Die Zeit der Flügelkämpfe sei vorbei, sagt Hamburg. Sie versucht gerne daraus eine Erfolgserzählung zu schnitzen. Die Grünen hätten das alles durch. Deshalb sei niemand besser geeignet, widerstreitende Positionen an einen Tisch zu bringen und zu vereinen.
Neben dieser Erfahrung mit zähen und harten Auseinandersetzungen gibt es eine weitere Erfahrung, die Hamburg geprägt hat. Sie war 2013 kaum jüngste Landtagsabgeordnete und zum zweiten Mal Mutter geworden, als sie infolge der Schwangerschaft eine schwere Herzerkrankung bekam. Die postpartale Kardiomyopathie (PPCM) ist eine seltene und kaum bekannte Komplikation. Julia Hamburg stoppte sie quasi im vollen Lauf, nach einem parteiinternen Aufstieg, der bis dahin rasch und reibungslos aussah. Und weil sie nun schon in der Öffentlichkeit stand, wurde die auch öffentlich verhandelt. Hamburg entschied sich, aus der Not eine Tugend zu machen: Sie gab Interviews, um auf die lebensbedrohliche und oft übersehene, zu spät oder falsch diagnostizierte Krankheit aufmerksam zu machen.
Zehn Monate lang fiel sie aus, in dieser Zeit enthielt sich auch jeweils ein FDP-Mitglied bei den Abstimmungen, um die Mehrheitsverhältnisse nicht zu verzerren. Erst im Juli 2014 kehrte Hamburg in den Landtag zurück, den Landesvorsitz hatte sie abgegeben. Zur Fraktionsvorsitzenden wurde sie 2020, nachdem Anja Piel in den DGB-Bundesvorstand nach Berlin gewechselt war.
Julia Willie Hamburg gilt als energische Verfechterin von Rot-Grün. Sie sagt von sich, dass sie 2005 – als Schröder die Vertrauensfrage stellte – in die Partei eingetreten sei, um das rot-grüne Projekt zu verteidigen. Genauso energisch verteidigt sie heute die Politik der Ampel.
Grüne als dynamischer Juniorpartner
Ihr Wunschkoalitionspartner bleibt auch in diesem Wahlkampf Weils SPD. Wenn sie sich eine Verhandlung mit der CDU um eine schwarz-grüne Koalition prinzipiell offen hält, dann eher aus taktischen Gründen – und nie ohne den spöttischen Halbsatz, man müsse schon sehr genau schauen, welche Gemeinsamkeiten man da überhaupt ausmachen könnte – erfolgreiche schwarz-grüne Koalitionen in NRW und Schleswig-Holstein hin oder her.
Lieber stilisiert sie die Grünen zum dynamischen Juniorpartner, der als Einziger in der Lage ist, die träge SPD zum Jagen zu tragen. Betrachtet man die Umfragen, ist das auch die realistischste Variante. Zumal Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) allen Sticheleien zum Trotz seit fast zwei Jahren erklärt, er wolle lieber wieder mit den Grünen regieren.
Allerdings bleibt abzuwarten, wie viel vom Umfrage-Höhenflug am Wahltag noch übrig bleibt: Im Sommer kamen die Grünen auf über 20 Prozent, jetzt sind es eher 17. Im Sommer sah es so aus, als könnten die Grünen zum ersten Mal Direktmandate erzielen, mittlerweile sind diese grünen Flecken auf der traditionell rot-schwarzen Landkarte Niedersachsens deutlich geschrumpft. Chancen gibt allenfalls noch in den Universitätsstädten Hannover und Göttingen.
Das liegt auch daran, dass die grünen Spitzenkandidaten – anders als Weil und selbst Althusmann von der CDU – kaum bekannt sind. Noch im Sommer ergab eine infratest-dimap-Umfrage im Auftrag des NDR, dass dreiviertel aller Wahlberechtigten Julia Willie Hamburgs Namen nicht kannten.
Seither sind sie und ihr Vize allerdings unermüdlich durchs Land gereist, um sich bekannter zu machen. Und dabei erzählt sie gern die Geschichte, wie es zu ihrem zweiten ungewöhnlichen Vornamen kam. „Willy“ nannten die Eltern scherzhaft unter sich den dicken Schwangerschaftsbauch – bevor sie wussten, dass sich darin ein kleines Mädchen befand. Der Name, nun mit der weiblichen Endung -ie, blieb – wenn auch nur als zweiter Vorname.
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