Alkoholatlas 2022: Vom Vermentino nur ein Schlückchen

Trinken ist schlecht für Leber, Niere, Herz. Der neue Alkoholatlas rät zu Verzicht. Eine Gewissensentscheidung zwischen Selbstoptimierung und Spaß.

Ein Mann und ein Frau halten je ein Rotwein- und ein Weißweinglas in der Hand - die Gläser sind halbvoll

Sitzen ist das neue Rauchen und Zucker das neue Sitzen und Alkohol geht gar nicht Foto: J. DelmartyJ/Alpaca/imago

Haben Sie schon mal vom Alkoholatlas gehört? Ich bis vor kurzem auch nicht. Aber ich habe mit großer Neugier darin geblättert, oder besser gesagt, mich im Digitalexemplar von Seite zu Seite geklickt. Was soll ich sagen? Der Alkoholatlas ist ein Meisterwerk der ars arcu, der Kunst des Alkohols. Es gibt keinen Aspekt im Zusammenhang mit alkoholischen Getränken, den der Atlas nicht aufgenommen hat.

Er erklärt, welche Biersorten es gibt und wie sie hergestellt werden, welche Biere ober- und welche untergärig sind und räumt ein, dass Bier sogar ein paar Vitamine enthält. Er macht einen Schlenker zur Weinhistorie und zu Weinreben, die im Übrigen zu den ältesten Kulturpflanzen gehören und schon um 3.500 v. Chr. von den Ägyptern, Babyloniern und Indern angebaut wurden.

Der Atlas weiß, dass es mehr als 16.000 Rebsorten gibt, von denen etwa 100 in Deutschland zum Anbau zugelassen sind. Er erklärt den Unterschied zwischen Obstbränden, Geist und Brandy, listet auf, woraus Gin, Wodka, Rum und Whisky hergestellt werden. Und gibt einen Einblick, wo Bier, Wein, Schnaps produziert beziehungsweise angebaut und wie die fertigen Getränke gehandelt werden. Er vertieft sich sogar ins Alkoholmarketing.

Mit Kapiteln wie diesen könnte der Alkoholatlas glatt als Standardwerk in der Sommelier- und Bierbrauerausbildung durchgehen. Aber, Sie ahnen es vielleicht schon, das ist er ganz und gar nicht. Er will nämlich das Gegenteil des Trinkgenusses erreichen – er will den Menschen den Alkohol abgewöhnen. Und das hat einen ganz banalen Grund: Alkohol ist schädlich.

Gedächtnisprobleme und Erektionsstörungen

Das ist nun wahrlich keine neue Erkenntnis. Ich würde sogar behaupten, das wussten bereits die alten Ägypter, von denen sicher auch so mancher nach üppigem Gelage am nächsten Tag mit dickem Schädel aufgewacht ist. Nur hatten die Ägypter keinen Alkoholatlas.

Dafür hat der aktuelle – einen ersten Alkoholatlas gab es bereits 2017 – es in sich. Ein paar Auszüge gefällig?

Etwa 16 Prozent der Männer und 11 Prozent der Frauen trinken regelmäßig Bier, Wein, Schnaps – und das in erheblichem Maße. Also nicht nur das sogenannte kleine Feierabendbier und den Crémant zum Anstoßen beim 70. Geburtstag der Tante. Sondern mehr, als dem Körper guttut. Der merkt das irgendwann und rächt sich: mit Krebs beispielsweise.

Jedenfalls soll die Todesursache von mehr als 8.000 Krebstoten pro Jahr übermäßiger Alkoholkonsum sein. So sagt es das Deutsche Krebsforschungszentrum (DKFZ), das den Alkoholatlas herausgibt. Für 2022 erwartet das DKFZ, dass etwa 6.200 Männer und 2.100 Frauen an Krebs sterben infolge von zu viel Alkohol.

Neben Krebs gibt es zahlreiche andere fiese Krankheiten: Fettleber, Herz-Kreislaufprobleme, Schlaf- und Erektionsstörungen, hoher Blutdruck, Konzentrationsstörungen, Gedächtnisprobleme. Auch das Sozialverhalten leide laut DKFZ unter zu viel Alkohol, mit der Folge der sozialen (Selbst)Ausgrenzung. Das widerspricht dann wiederum dem Glauben, dass Alkohol gesellig macht.

Pilates, Intervallfasten und 10.000 Schritte

Und es ist nicht so, dass vor allem Menschen sterben, die zu lange zu tief ins Glas geschaut haben. Die meisten Todesfälle infolge von zu viel Alkohol treten auf, wenn die Menschen zwischen 20 und 50 Jahre alt sind.

Nun mögen die DKFZ-Expert:innen ja noch so viel wissen über Schnaps und seine Folgen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es vor allem Me­di­zi­ne­r:in­nen sind, die gegenüber Drogen aller Art nicht abgeneigt sind. Lun­gen­ärz­t:in­nen rauchen nicht selten sehr gern, In­ter­nis­t:in­nen treffen sich schon mal in der Bar auf einen standesgemäßen Whisky, Haus­ärz­t:in­nen greifen mit Genuss nach einem Barolo.

Trotzdem raten sie dazu, fast nichts oder wenigstens sehr wenig zu trinken, und mindestens zwei alkoholfreie Tage in der Woche einzulegen. So sollten Männer nicht mehr als ein kleines Bier, also etwa ein halber Liter, am Tag trinken, und Frauen noch weniger, 0,3 Liter Bier oder ein Miniglas Wein. Im Restaurant würde der Satz beim Bestellen dann lauten: „Bitte nur 0,1 von dem Vermentino, bitte.“

Am besten aber, sagen die Fachleute, sei es, gar nichts mehr zu trinken. So nach dem Motto: Nüchtern ist das neue Cool. Feiert Teepartys und schenkt Smoothies aus! Im Sinne der Krebs­wis­sen­schaft­le­r:in­nen ist das durchaus verständlich, im Sinne der Hardcoreschluckspechte erst recht. Aber mal im Ernst: Da ist nun Sitzen schon das neue Rauchen und Zucker das neue Sitzen. Man sollte Joggen, Yoga und Pilates machen, kein Fleisch mehr essen, Kuchen meiden, Intervallfasten, 10.000 Schritte gehen und mindestens zwei Liter Wasser am Tag in sich hineinschütten.

Und wenn Sie sich dann noch ganz doll anstrengen und 15 bis 35 Jahre komplett nüchtern bleiben, senken Sie Ihr Krebsrisiko auf das einer Person, die nie einen Tropfen Alkohol zu sich genommen hat. Kann man machen, wenn man 100 werden will. Ach, Scheiß doch auf die ganze Selbstoptimierung, da könnte ich auch gleich aufhören zu atmen. Prost!

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Ressortleiterin Meinung. Zuvor Ressortleiterin taz.de / Regie, Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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