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„Cybermobbing war früher kein Thema“

Der niedersächsische Landesverband von „pro familia“ hat eine App entwickelt, um Jugendliche zum Thema Sexualität beraten zu können. Es melden sich viele Mädchen

Heutzutage chatten Jugendliche meist über das Smartphone Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

Interview Eiken Bruhn

taz: Frau Müller, Sie haben für „pro familia“ Niedersachsen eine Messenger-App entwickelt, mit der sich Jugendliche und junge Erwachsene zu Fragen von Sexualität und Partnerschaft beraten lassen können. Sie kann seit Februar heruntergeladen werden. Melden sich mehr Jungen oder Mädchen?

Hildegard Müller:Deutlich mehr Mädchen, etwa 70 bis 75 Prozent. Als wir 2001 mit unserer Onlineberatung „Sexundso“ anfingen, war es umgekehrt, da waren es 80 Prozent Jungen. Wir haben vermutet, dass das daran lag, dass Mädchen damals weniger im Internet unterwegs waren.

Wie alt sind Ihre Chat­partner:innen?

Die meisten, also 70 Prozent, sind zwischen 14 und 29 Jahren. Aber es melden sich auch Kinder zwischen zehn und zwölf.

Welche Fragen haben die Kinder?

Manche sagen: „Ich habe noch keinen Busen“, andere haben schon einen, und es ist ihnen peinlich. Von Jungen hören wir oft: „Mein Penis ist so klein.“ Es geht aber auch um Streit mit der Mutter, Verliebtsein, Einsamkeit, Mobbing, Essstörungen oder der Wunsch nach einer Freundin oder einem Freund. Manchmal geht es um Bauchschmerzen, dahinter kann aber auch etwas anderes stecken wie Gewalterfahrungen, da müssen wir dann gucken, was los ist.

Womit kommen die Älteren?

Bei den Mädchen ist das am häufigsten genannte Thema Schwangerschaft und bei Jungen oder jungen Männern Sexualität. Danach kommen Verhütung, Lebensberatung und Beziehungen.

Welche Fragen stellen die Jugendlichen zu Sexualität?

Auch bei den älteren Jungen ist das oft die Angst, einen zu kleinen Penis zu haben. Oder „Ich habe keine Erektion“, oder „Ich komme viel zu früh“. Aber auch „Ich hätte gerne Sex, aber meine Freundin will noch nicht“. Verhütung ist viel mehr bei Mädchen Thema. Manche wollen auch wissen, ob sie Pornos gucken oder Nacktbilder von sich verschicken dürfen.

Sie machen ja schon seit 2001 Onlineberatung. Was hat sich seitdem verändert?

Pornografie war am Anfang kaum Thema, das ist jetzt ein ziemlich großes bei den Jungen. Bei den Mädchen so gut wie gar nicht, außer sie entdecken, dass ihr Freund pornografische Filme guckt. Da geht es oft darum, dass die Jungen wissen wollen, ob sie süchtig seien. Wir haben auch in unseren sexualpädagogischen Seminaren in Schulen festgestellt, dass viele Jugendliche gut einschätzen können, dass die Sexualität, wie sie in Pornos dargestellt wird, nichts mit der Realität zu tun hat. Aber den Druck verspüren sie trotzdem, dass sie super im Bett sein müssen.

Foto: privat

Hildegard Müller

65, Diplom-Pädagogin und Gestalttherapeutin, leitet im „pro familia“-Landesverband Niedersachsen die Partnerschafts- und Sexualberatung sowie die Onlineberatung.

Gibt es noch etwas, was sich verändert hat?

Es kommen häufig Fragen zur sexuellen Orientierung und zur sexuellen Identität. Cybermobbing war früher kein Thema –oder das Verschicken von Nacktbildern.

Wird es die Onlineberatung weiter geben?

Ja, es hat sich im Beratungskontext herausgestellt, dass es am besten ist, verschiedene Formate parallel anzubieten: Video, Telefon, Chat, E-Mail und Face to Face. Jugendliche nutzen kaum noch Onlineberatung, die sitzen nicht am Laptop, deshalb haben wir die Messenger-App entwickelt. Aber wenn der Wunsch nach einer längeren Beratung da ist, steigen manche auf Mail-basierte Beratung um. Jugendliche gehen nicht einfach so in eine Beratungsstelle, aber wenn sie im Chat schon mal zu den Se­xu­al­päd­ago­g:in­nen Kontakt hatten, trauen sie sich das eher.

Wie schnell können Sie antworten? Die Jugendlichen ­schreiben ja wahrscheinlich rund um die Uhr, aber Sie sind nicht 24 Stunden und am Wochenende im Einsatz.

Nein, das können wir nicht leisten. Wir versuchen möglichst schnell zu antworten, spätestens nach zwei Tagen. Wir überlegen, ob wir zukünftig Termine anbieten, damit wir synchron chatten können.

Wie viele Nachrichten bekommen Sie pro Tag?

Das kann ich gar nicht so genau sagen. Im Jahr sind es etwa 2.000 bei der Onlineberatung.

Und beantworten Sie nur Anfragen aus Niedersachsen?

„Es kommen häufig Fragen zur sexuellen Identität“

Nein, bei der App können wir das ja gar nicht sehen, wo jemand sitzt. Die anderen „pro familia“-Landesverbände denken aber auch darüber nach, so etwas zu etablieren.

Sie haben in einem Interview gesagt, dass sich die Sprache der Jugendlichen verändert habe. Was meinen Sie damit?

Wir bekommen oft sehr kurze Texte, als würden sie Fragen in einer Suchmaske eingeben. Da steht dann manchmal nur „schwanger“, „Schmerzen“ oder „Mir geht es schlecht“. Da müssen wir nachfragen, um herauszubekommen, worum es geht. Das haben wir in Fortbildungen gelernt, auch wie wir uns kurz ausdrücken können. Das fällt Be­ra­te­r:in­nen meist schwer, weil wir ganz viel Informationen rüberbringen und möglichst umfangreich beraten wollen.

Ist ein Chat vergleichbar mit einer Beratung von Angesicht zu Angesicht?

Ein kurzer Chat, bei dem es hauptsächlich um eine Information geht, ist nicht vergleichbar mit einer Beratung von Angesicht zu Angesicht. Bei längeren Beratungen ist die Wirksamkeit vergleichbar mit der Face-to-Face-Beratung. Viele melden sich auch nicht nur einmal. Wir versuchen, dass die Be­ra­te­r:in antwortet, die schon einmal den Kontakt hatte.

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