piwik no script img

Nervenkrieg um AKW eskaliert

Das russisch besetzte AKW Saporischschja im Süden der Ukraine ist vom Stromnetz abgekoppelt

Aus Kiew Bernhard Clasen

Das von der russischen Armee besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja ist nach Angaben des Betreibers am Donnerstag vollständig vom ukrainischen Stromnetz abgekoppelt worden. Wie die ukrainische Betreibergesellschaft Energoatom mitteilte, wurden die beiden zuletzt noch arbeitenden Reaktoren der Anlage „komplett“ vom Netz genommen. Dies sei „das erste Mal in der Geschichte der Anlage“.

Als Grund nannte Energoatom Brände auf dem Gelände des nahe dem AKW gelegenen Wärmekraftwerks, die die letzte noch verbliebene Anschlussleitung unterbrochen hätten. Drei weitere Leitungen seien bereits zuvor „durch terroristische Angriffe“ der russischen Seite beschädigt worden. Die Stromversorgung des AKW selbst sei noch gewährleistet, das Sicherheitssystem funktioniere. Es werde derzeit versucht, zumindest einen Reaktor wieder ans Netz zu bringen.

Zuvor war von einem vorübergehenden totalen Stromausfall in einigen von Russland kontrollierten Gebieten im Süden der Ukraine berichtet worden. Eine Ursache könnte der anhaltende Beschuss des Städtchens Enerhodar sein, wo sich das AKW Saporischschja befinde. Die Ursache könnte aber auch eine russische Abkopplung der besetzten Gebiete vom ukrainischen Energiesystem sein, mutmaßt der Telegramkanal von strana.ua.

Das Atomkraftwerk Saporischschja verfügt über sechs Reaktoren, von denen noch zwei in Betrieb sind und ins ukrainische Stromnetz einspeisen. Die russische Armee hatte das Kraftwerk am 4. März besetzt, es wird aber weiterhin von ukrainischen Technikern betrieben, die unter Anweisung russischer Besatzungsbehörden arbeiten. Die Ukraine wirft der russischen Seite vor, auf dem Gelände unsachgemäß militärisches Gerät und Personal stationiert zu haben.

Russland, so der immer wieder in der Ukraine geäußerte Vorwurf, habe gezielt militärische Ausrüstung auf dem AKW-Gelände stationiert in dem Wissen, dass die Ukraine kein Feuer aus dieser Richtung erwidern würde. In den vergangenen Wochen war das größte AKW Europas mehrfach unter Beschuss geraten, was Ängste vor einer Atomkatastrophe schürte. Beide Kriegsparteien machen sich gegenseitig für den Beschuss verantwortlich. In einer am Donnerstag verbreiteten Videobotschaft, die aus Enerhodar stammen soll, berichten Bewohner des Ortes, die russischen Besatzungstruppen würden täglich in Häuser einbrechen, Menschen verschleppen und auch das AKW beschießen.

Energoatom vermutet, dass Russland das AKW Saporischschja vom ukrainischen Netz trennen und an das russische Stromnetz auf der Krim anschließen will. Nach britischen Presseberichten hat Energoatom-Direktor Petro Kotin entsprechende Pläne zu sehen bekommen. Man befürchte auch für diesen Fall einen Ausfall der Kühlung.

Die Internationale Atomenergiebehörde IAEA versucht seit Wochen vergeblich, Zugang zum AKW Saporischschja zu erhalten. Russland hat eine auch von der Ukraine gewünschte internationale Inspektion davon abhängig gemacht, dass die Inspektoren über Russland anreisen. Die UNO will aber eine Anreise über die Ukraine, wo die für das AKW zuständige Behörde ihren Sitz hat. Am Mittwoch hatte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in einer Videobotschaft an den UN-Sicherheitsrat gefordert, das AKW unter internationale Kontrolle zu stellen.

Die internationale Atomenergiebehörde IAEA steht nach eigenen Angaben nun kurz vor einer Vereinbarung für eine Inspektionsreise nach Saporischschja. „Wir sind sehr, sehr nah dran“, sagt IAEA-Chef Rafael Grossi dem TV-Sender France 24 nach einem Treffen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Die UN-Behörde hatte angekündigt, im Falle einer Einigung mit der Ukraine und Russland binnen weniger Tage Experten zu der Anlage zu entsenden. Berichten zufolge will sie das Gelände vor dem 5. September besuchen, Grossi wolle die Delegation selbst leiten. (mit reuters, afp)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen