Zu lange beim Burnout zugesehen

In Nordrhein-Westfalen streikt das Personal von sechs Unikliniken mittlerweile seit mehr als zehn Wochen. Die Forderung: ein Tarifvertrag für Entlastung

Anfang Juni in Köln: Die Bezahlung kritisieren sie auch, beim aktuellen Streik der Beschäftigten geht es aber um personelle Entlastung Foto: Christian Knieps/dpa

Von Linda Gerner

Bin gerade wieder AU“, schreibt mir meine Freundin. Als ich gerade „Oh, nein, gute Besserung“ tippen will, erscheint eine zweite Nachricht: „Zum Glück.“ AU – arbeitsunfähig, krankgeschrieben. Inzwischen ist sie das häufiger. Sie hat Probleme mit den Knien und dem Rücken. Ihren Arbeitsalltag als Pflegerin im Krankenhaus kann sie so nicht durchhalten. Zu den körperlichen Belastungen sind bei ihr vermehrt Stresssymptome aufgetreten: Schwindel, Panikattacken. Als sie vor sechs Jahren mit der Ausbildung fertig war, hat sie ihren Job aus voller Überzeugung gemacht. Davon ist nicht mehr viel übrig geblieben. „Ich kann mich um niemanden gut kümmern, wenn es mir nicht gut geht“, sagte sie mal.

Der Alltag im Krankenhaus ist für die meisten Menschen erst dann richtig präsent, wenn sie selbst oder Angehörige gesundheitliche Versorgung dringend benötigen. Dann will man die ausgeruhte Ärztin, den freundlichen Krankenpfleger, das gut gekochte Kantinenessen und die sauberen Toiletten. Hin und wieder liest man die Schlagzeilen von zu hoher Arbeitsbelastung, von akutem und steigendem Personalmangel, von Notbetrieb in Kliniken. Aber das eben schon seit Jahren, das ist keine Neuigkeit.

Auch das von Verdi organisierte Bündnis „Notruf NRW“ nahm man eher am Rande wahr. Dabei ist das ein inzwischen historischer Arbeitskampf. Schon seit dem 4. Mai läuft an den Klinikstandorten Köln, Bonn, Aachen, Düsseldorf, Essen und Münster ein unbefristeter Streik. Und die Beschäftigten fordern nicht mehr Geld. Sie wollen gemeinsam mit Verdi einen „Tarifvertrag Entlastung“ abschließen. Dieser soll für alle Arbeitsbereiche und Stationen konkret regeln, wie viele Beschäftigte notwendig sind, um die Arbeit ohne Überlastung durchführen zu können. Verkürzt zusammengefasst: Sie wollen nicht länger ausbrennen. Dass das kein unerreichbares Ziel ist, wurde an der Berliner Charité vorgemacht. Die Belegschaft erstreikte erst im vergangenen Jahr einen erweiterten Tarifvertrag zur Entlastung. In Deutschland haben bislang 19 Großkrankenhäuser Vereinbarungen zur Entlastung getroffen. Inzwischen sind die NRW-Uni­kli­nik­mit­ar­bei­te­r*in­nen in der elften Streikwoche. Das ist besonders beeindruckend, wenn man bedenkt, wie viel Druck bereits auf sie ausgeübt wurde.

Statt sich an den Verhandlungstisch zu setzen, versuchten die Bonner Unikliniken den Streik gerichtlich verbieten zu lassen. Ihr Eilantrag wurde zweifach abgelehnt, das Gericht sieht die Forderungen der Streikenden hinreichend begründet. Auch versuchen Klinikleitende den Druck durch die Öffentlichkeit zu erhöhen. Gegenüber der Presse sprechen sie von „akut bedrohlichen Situationen“. In ­einem offenen Brief werfen Ärz­t*in­nen und leitende Uni­pro­fes­so­r*in­nen den Beschäftigten vor, dass sie den Streik „auf dem Rücken von verunfallten Patienten sowie dem ärztlichen Personal“ austragen. Als wären die Streikenden nicht gerade an der besseren Versorgung kranker Menschen interessiert.

Auch einige Medienberichte können emotionalen Druck auf die Streikenden ausüben. Etwa kürzlich der über die wegen des Streiks verschobenen Chemotherapie des zweijährigen Emils. In der Rheinischen Post sieht man Bilder von ihm und seinen Eltern. Natürlich wünscht man ihm die bestmögliche Behandlung. Doch bei den Forderungen der Streikenden geht es auch um die bessere Versorgung von kranken Kindern wie Emil. Aufgrund des Streiks – aber auch aufgrund des hohen Krankheitsstands wegen Corona – werden gerade viele Ope­ra­tio­nen verschoben. Doch ändert sich an den Arbeitsbedingungen nichts, wird immer mehr Personal ­fehlen.

Schon jetzt haben zahlreiche Menschen im Gesundheitswesen gekündigt, um ihre eigene Gesundheit wahren zu können. Jahrelang wurden die Belastungen angekreidet. Geändert hat sich zu wenig. Beim Burnout wurde zugesehen. Vonseiten der Politik gab es in den vergangenen Jahren zu oft nur ein „Danke“ und warme Worte in Richtung der Pflegekräfte. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) kündigte jetzt an, dass er zum 1. Januar 2024 eine neue Pflegepersonal-Regelung (PPR 2.0) einführen werde. Die solle dazu führen, dass Kliniken so viele Pflegekräfte einstellen müssen wie benötigt. Sank­tio­nen bei Nichterfüllung werde es jedoch erst ab 2025 geben. Wie die aussehen werden, ist noch unklar. Der Gesundheitsminister hofft darauf, dass mit dieser Regelung Pflegekräfte in den Job zurückkehren, die diesen wegen der belastenden Arbeitsumstände ganz oder teilweise verlassen haben.

Schon jetzt haben zahlreiche Menschen im Gesundheitswesen gekündigt, um ihre eigene Gesundheit wahren zu können

Dazu sind laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung in Deutschland rund 300.000 ehemalige Vollzeitkräfte bereit. Allerdings gab es die Pläne, die Lauterbach jetzt umsetzen will, bereits seit 2020. Vier Jahre müssen also ins Land ziehen, um Arbeitsbedingungen zu verbessern. Wen kann da ein Streik verwundern? Vor der Landtagswahl in NRW sagte der dort nun wiedergewählte Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU): „Es ist ganz klar, es wird diesen Tarifvertrag geben.“ Ende Juni sagte er im Namen der schwarz-grünen Regierungs­koa­li­tion dann auch die strittige Übernahme der Kosten für die Bereiche, die nicht von Krankenkassen übernommen würden, zu. Ein möglicher Türöffner für eine baldige Einigung?

Bis zum Redaktionsschluss konnte sich Verdi-Verhandlungsführerin Katharina Wesenick dazu noch nicht äußern. Noch bis Freitagnacht sollte weiterverhandelt werden. Das Angebot, dass bislang unterbreitet wurde, dividierte das Personal auseinander. Die Klinikvorstände boten eine pauschale Regelung mit bis zu sieben Entlastungstagen pro Jahr für pflegende Berufe an. Dabei wären einige in der Belegschaft leer ausgegangen.

Es macht Mut zu sehen, wie solidarisch die Streiks in den nordrhein-westfälischen Unikliniken mit dem gesamten Krankenhauspersonal sind. „Krankenhaus ist Teamarbeit. Nur wenn alle Bereiche zusammenarbeiten und funktionieren, können wir unsere Pa­ti­en­t*in­nen gut versorgen. Doch überall fehlt es an Personal“, wird die Servicekraft Elli zitiert. Pflegende, Köch*innen, Reinigungskräfte streiken zusammen. Für eine besseres Gesundheitsversorgung für alle.