Geplatzte Obdachlosenzählung in Berlin: Es sieht schlecht aus für 2030

Das Ziel, die Obdachlosigkeit bis 2030 abzuschaffen, ist kaum noch zu erreichen. Dafür fehlt nun ein wichtiger Baustein. Die Politik agiert konzeptlos.

Obdachlose haben sich unter einer Brücke eine Unterkunft mit Matrazen gebaut

Nicht alle Obdachlosen in Berlin sind so sichtbar wie jene hier am Stuttgarter Platz Foto: dpa

Die Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit in Berlin bis 2030 war vor vorneherein ein sehr ambitioniertes Ziel. Viele waren skeptisch, als die ehemalige Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) vor knapp zwei Jahren ihren „Masterplan“ verkündete. Wie soll das gehen, fragten sie, angesichts zunehmender Wohnungsknappheit und Armut, steigenden Mieten und immer mehr Zuwanderern?

Nach der Absage der zweiten Wohnungslosenzählung, die Ende vergangener Woche bekannt wurde und eigentlich kommenden Mittwoch stattfinden sollte, bleibt festzuhalten: Die Chancen, den Masterplan zu realisieren, sind damit weiter gesunken. Denn nun wird weiterhin die solide Datenbasis fehlen, die Ex­per­t*in­nen seit Jahren fordern. Es weiß ja niemand, wie viele Menschen genau auf der Straße leben, in Kellern und auf Dachböden, bei Bekannten/Freunden auf dem Sofa – seit wann und warum genau, was sie brauchen, was ihnen fehlt.

Man weiß nur: Die knapp 2.000 Obdachlosen, die bei der ersten Erfassung im Januar 2020 von den Zäh­le­r*in­nen auf Berlins Straßen angetroffen wurden, können nicht „alle“ sein – das widerspricht den Beobachtungen und auch den Schätzungen der Expert*innen, die von bis zu 10.000 Obdachlosen ausgegangen waren.

Und weil sich zudem Obdachlosigkeit im Winter anders darstellt als im Sommer, etwa weil mehr Wan­der­ar­bei­te­r*in­nen aus dem In- und Ausland in die Hauptstadt kommen, haben die Ex­per­t*in­nen um Armutsforscherin Susanna Gerull von Beginn an gesagt, man brauche eine „Sommerzählung“ – beziehungsweise regelmäßig wiederkehrende Zählungen. Und man benötige für die umfassende Wohnungsnotfallstatistik auch Befragungen von anderen Menschen, etwa jener, die tagsüber die Angebote der Wohnungslosenhilfe aufsuchen.

Wem die „Abschaffung der Obdachlosigkeit“ ein dringliches Anliegen ist, darf einen zentralen Baustein wie die Zählung nicht an die Zivilgesellschaft auslagern.

Aus all dem wird auf absehbare Zeit nichts. Die Verantwortlichen, also die Senatsverwaltung für Soziales und der Verband für sozial-kulturelle Arbeit (VskA), haben – warum auch immer – entschieden, die verpatzte Sommerzählung im Winter 2023 nachzuholen. Methodisch macht das keinen Sinn. Zudem haben die Befragungen anderer Wohnungsloser in den Hilfseinrichtungen laut Gerull ebenfalls nicht stattgefunden wegen Corona. Von der geforderten „umfassenden Wohnungsnotfallstatistik“ sind wir also so weit weg wie vor Ausrufung des Masterplans des Senats.

Das mag zum kleinen Teil daran liegen, dass die Zivilgesellschaft, die ja die Zählung mit mindestens 2.600 Freiwilligen vor allem stemmen sollte, gerade zu sehr mit anderen Themen (Corona, Ukraine-Krieg, Klimakrise) beschäftigt ist, die auch alle „Solidarität“ fordern – und viele Menschen wohl auch überfordern.

Das größere Problem ist jedoch die Zögerlichkeit und Konzeptlosigkeit der Politik, die sich im aktuellen Vorgehen zeigt. Wenn einem die „Abschaffung der Obdachlosigkeit“ ein ehrliches und dringliches Anliegen ist, darf man einen zentralen Baustein wie die Zählung nicht an die Zivilgesellschaft auslagern. Das müssen Politik und Verwaltung schon selber organisieren, finanzieren und umsetzen.

Ob Breitenbachs Nachfolgerin Katja Kipping (ebenfalls Linke) dazu bereit ist? Sie wird sich schnell etwas einfallen lassen müssen, um das Ziel 2030 nicht völlig aus den Augen zu verlieren.

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Jahrgang 1969, seit 2003 bei der taz, erst in Köln, seit 2007 in Berlin. Ist im Berliner Lokalteil verantwortlich für die Themenbereiche Migration und Antirassismus.

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