piwik no script img

Spätstarter überzeugt bei Turn-DMEs geht auch ganz anders

Bei den Finals 2022 gewinnt Glenn Trebing die erste Mehrkampfmedaille. Sein Erfolg trotz späten Einstiegs ins Turnen widerspricht allen Lehrmeinungen.

Glenn Trebing beweist an den Ringen seine Vielseitigkeit Foto: Christoph Soeder/dpa

„Es ist schon sehr motivierend, einen alten Mann vor der Nase zu haben.“ Das sagt Glenn Trebing, 22, über Andreas Toba, knapp 32. Er sagt auch: „Ich glaube, ohne den würde ich nicht hier sein“ – und meint das „ganz ernst“. Bei den Meisterschaften in Berlin stehen die beiden am Wochenende nebeneinander und verfolgen den Frauenwettbewerb. Am Tag zuvor hatte der junge Mann mit Bronze seine erste Mehrkampfmedaille gewonnen, der alte Mann hatte ihm bei der Umarmung nach dem Wettkampf gesagt: „Ich bin so stolz auf dich!“ Er selbst war Sechster geworden.

Glenn Trebing und Andreas Toba sind Profiturner, zweimal am Tag stehen sie mit Trainer Adrian Catanoiu in der Halle des TK Hannover. Toba würde ihm wertvolle Hinweise geben, ihn „pushen“ – wie die Turner es nennen. Andreas Toba hat an sechs Europameisterschaften, fünf Weltmeisterschaften und drei Olympischen Spielen teilgenommen. Bei der EM im vergangenen Jahr hat er mit Silber am Reck seine erste internationale Einzelmedaille gewonnen, für Glenn Trebing war der gleiche Wettkampf das internationale Debüt und der alte Mann als Bezugsperson „extrem wichtig“. Andreas Toba sagt: „Wir trainieren unfassbar gern zusammen und kommen gerne in die Halle.“ Auch deshalb stünden sie da, wo sie stehen.

Alter ist im Turnsport ein großes Thema. Allgemein herrscht die Überzeugung vor, dass man so früh wie irgend möglich beginnen muss, um erfolgreich zu werden. Das ist zwar keineswegs eine gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis, aber trotzdem richtet sich das gesamte Leistungssportsystem nach dieser Maxime. Die Sichtung potenzieller Talente beginnt nicht selten im Vorschulalter, deutsche Meistertitel werden in der Schülerklasse bereits an 13-jährige Kinder vergeben.

Glenn Trebing ist der Beweis dafür, dass es auch anders geht. Er war fast elf Jahre alt, als er in Kassel mit dem Turnen begann. Er habe zu der Zeit alles Mögliche gemacht, Leichtathletik und Kickboxen zum Beispiel. Nach dem Wechsel aufs Gymnasium habe ihm sein Lehrer gesagt: „Wenn du wirklich Sport machen willst, dann such dir jetzt was aus.“

Gute Aussichten auf EM-Teilnahme

Im Kickboxen, das sein Vater betreibt, war Glenn „auch schon ganz gut“, aber Training hätte es nur zweimal pro Woche gegeben. „Ich war ein Kind, das viel Bewegung brauchte, und dann sind wir halt zum Turnen“, erzählt Glenn. Sein Lehrer – und erster Trainer – Hans-Rüdiger Matzner habe ihn auf den richtigen Weg gebracht: „Er hat die Hälfte meiner Karriere begleitet, ich bin ihm sehr dankbar.“

Glenn und Zwillingsbruder Lewis, der den gleichen Weg wählte, erwiesen sich dann rasch als Talente. 2015 gelang beiden der Sprung in den Kader, 2017 zogen sie gemeinsam ins Internat nach Hannover, machten dort ihr Abitur und trainierten fortan im Stützpunkt Hannover. 2018 wurde Trebing deutscher Jugendmeister im Mehrkampf, 2019 fiel nach einem Achillessehnenriss aus, 2020 wegen Corona, 2021 dann die ersten internationalen Wettkämpfe. Nach seinem Auftritt in Berlin, wo sich Trebing auch für vier Finalentscheidungen qualifizierte, stehen nun die Chancen auf eine Teilnahme bei der EM in München sehr gut.

Glenn Trebing kennt in Deutschland niemanden, der so spät mit dem Turnen begonnen hat wie er und sein Bruder, der nach der Coronazeit ins Artistenfach wechselte. Auf die Frage, ob das ein Vor- oder ein Nachteil gewesen sei, benennt er zuerst den Vorteil: Er sei in einem Alter gewesen, in dem er schon wusste, was er da tut. „Diejenigen, die so jung angefangen haben, die haben einfach nur gemacht, weil es der Trainer gesagt hat, ohne viel nachzudenken. Und als sie dann gewachsen sind, wussten sie nicht mehr, was passiert.“

Der Nachteil sei, dass er gewisse Grundlagen nicht früh gelernt habe, zum Beispiel die Technik von Schrauben, also in Salti integrierte Längsachsendrehungen. „Das habe ich versucht nachzuholen, aber eigentlich erst mit 19.“ Nach dem Achillessehnenriss hat er häufig auf dem Trampolin geübt und sich „ganz viel im Internet angeguckt“, wie die – für ihre Schraubentechnik bekannten – Japaner das so machen. „Seitdem kann ich auch ein bisschen Bodenturnen,“ sagt Glenn Trebing lächelnd.

Am Samstag wurde er Fünfter im Bodenfinale der deutschen Meisterschaft. Das große Ziel des Sportsoldaten ist natürlich die Teilnahme bei Olympischen Spielen, „vielleicht auch zwei oder drei“ – wie es Andreas Toba schon gelungen ist. „Hoffentlich bleibt er noch, bis Paris, das wär’ wirklich wichtig,“ sagt Glenn Trebing noch und schaut rüber zu dem alten Mann.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Mittlerweile werden Olympioniken offen als "Profiturner" beschreiben. Was für ein Unfug der ganze Leistungssport. Steuergelder sollten da keine mehr fließen. Ebensowenig wie für Fußballstadien.