Er kann erst mal weitermachen

Der britische Premierminister Boris Johnson übersteht das gegen ihn gerichtete Misstrauensvotum der Konservativen. Aber den „Schlussstrich“, den er jetzt unter seine Probleme ziehen will, gibt es nicht

Geschafft, aber für wie lange? Boris Johnson bei seinem Treffen mit Estlands Premierministerin am 6. Juni Foto: Alberto Pezzali/reuters

Von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski
(London) und Dominic Johnson

Ich glaube, es war ein extrem gutes, positives, abschließendes und eindeutiges Ergebnis, ein sehr gutes Resultat für Politik und Land“, so die adjektivreiche Reaktion des britischen Premierministers Boris Johnson, nachdem er ein kurzfristig angesetztes innerparteiliches Misstrauensvotum gegen ihn am Montagabend überstanden hatte.

Von den 359 Angehörigen der konservativen Fraktion im Unterhaus sprachen in der geheimen Abstimmung am Montagabend 148 ihrem Chef das Misstrauen aus und 211 nicht, wie um 21 Uhr Ortszeit Graham Brady, der Vorsitzende des Hinterbänklerausschusses „1922 Committee“, mitteilte.

Damit war Johnson gerettet. Eine Mehrheit gegen ihn hätte ihn als Parteichef abgesetzt und auch umgehend seinen Rücktritt als Premierminister erzwungen, da er bei der fälligen Neuwahl eines neuen Chefs der Konservativen nicht mehr hätte antreten dürfen.

Erst am Montagmorgen hatte Brady bekanntgegeben, die nötige Zahl von 54 schriftlichen Anträgen konservativer Abgeordneter auf ein Misstrauensvotum – das sind 15 Prozent der Fraktion – sei jetzt bei ihm eingegangen, und er setzte die Abstimmung noch für denselben Abend an. Der konservative Daily Telegraph, Boris Johnsons Hausblatt, berichtet, die 54 Anträge seien schon vorher zusammengekommen, aber manche seien auf Montag datiert gewesen, damit das historische Votum nicht mit den Platin-Jubiläumsfeierlichkeiten für die Queen zusammenfalle.

In den wenigen Stunden bis zum Votum tat Johnson dann alles, um ein Malheur zu verhindern: Er führte Gespräche mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenski und versprach ihm Mehrfachraketenwerfer, er war bei einem Empfang für Estlands Premierministerin und schickte persönlich signierte Briefe an konservative Parlamentarier, in denen er Steuersenkungen versprach. Damit kam er einer Forderung der Tory-Rechten nach, aus deren Reihen die Revolte gegen Johnson im vergangenen Herbst begonnen worden war, nachdem er die Sozialversicherungsbeiträge hochgesetzt hatte, um die Mehrausgaben des Gesundheitswesens wegen der Covid-19-Pandemie zu finanzieren. Aber ein koordinierter Teamversuch, wankelmütige Abgeordnete gezielt anzusprechen und damit die Zahl der Rebellen deutlich unter 150 zu drücken, war nicht zu erkennen.

In stichwortartigen Zusammenfassungen des Für und Wider einer Entfernung Johnsons aus dem Amt, die unter Abgeordneten zirkulierten, wurden die wichtigsten Argumente aufgezählt. „Boris Johnson ist kein Vorteil bei Wahlen mehr. Wenn er im Amt belassen wird, wird er die Partei 2024 in eine schwere Niederlage führen“, so das Hauptargument der Johnson-Gegner – Ende 2024 sind die nächsten Parlamentswahlen fällig. „Partygate und dessen Leugnung seitens des Premierministers im Unterhaus stellen einen schweren Vertrauensbruch gegenüber der britischen Bevölkerung dar. Boris Johnson kann ihr Vertrauen nicht zurückgewinnen, und sie werden einer von ihm geführten Regierung kein Versprechen glauben.“ Kurz: Nur ohne Johnson könnten die Tories an der Macht bleiben.

Die Argumente der Johnson-Befürworter waren wie spiegelbildlich. „Indem wir heute Premierminister Boris Johnson mit einem Vertrauensvotum stützen, können wir die Ablenkung der vergangenen Monate hinter uns lassen und uns vereint darauf konzentrieren, unsere Arbeit zu machen, nämlich unseren Wählern und dem Land zu dienen“, hieß es. „Die Menschen haben Sorgen und schlagen sich mit einer Lebenshaltungskostenkrise infolge weltweiter Inflation und hochschnellender Energiepreise herum; nach Putins fürchterlichem Einmarsch in die Ukraine gibt es Krieg in Europa; und unsere Wirtschaft erholt sich von Covid. Es wäre extrem schädlich für das Vereinigte Königreich und die Konservative Partei, eine ablenkende, spaltende und zerstörerische Wahl einer neuen Führung einzuleiten.“ Kurz: Nur mit Johnson könnten die Tories an der Macht bleiben.

2001: Einzug ins Parlament als konservativer Abgeordneter für den Wahlkreis Henley. 2005 wiedergewählt

2008: Wahl zum Oberbürgermeister von London und Rücktritt als Abgeordneter. 2012 als Oberbürgermeister wiedergewählt

2015: Erneuter Einzug ins Parlament als konservativer Abgeordneter für den Wahlkreis Uxbridge. 2017 und 2019 wiedergewählt

2016: Prominentester Unterstützer der überparteilichen Brexit-Kampagne „Vote Leave“, die das Referendum über Großbritanniens EU-Austritt gewinnt. Danach Außenminister unter der neuen Premierministerin Theresa May

Juli 2018: Rücktritt nach Differenzen mit May zum Brexit, die daraufhin für ihre Brexit-Pläne keine Mehrheit im Parlament mehr findet, aber ein Misstrauensvotum übersteht

Juli 2019: Wahl zum Parteichef der Konservativen und damit zum Premierminister als Nachfolger der zurückgetretenen May, aber ohne eigene Mehrheit im Parlament

Oktober 2019: Brexit-Abkommen mit der EU, aber vom Parlament blockiert

Dezember 2019: Hoher Wahlsieg bei Neuwahlen

Januar 2020: Brexit

April 2020: Corona-Erkrankung

November 2020: Entlassung des engsten Beraters Dominic Cummings, einstiger Chefstratege von „Vote Leave“

November 2021: Beginn der Enthüllungen zu „Partygate“ durch Leaks von Dominic Cummings (dj)

Die beiden gegensätzlichen Argumente prägen nun auch die Reaktion auf das Abstimmungsergebnis und dessen Folgen. Für die einen ist Johnson schwer geschwächt – die Zahl seiner Gegner auf den Bänken der Konservativen im Parlament ist weitaus höher als seine Mehrheit im eigenen Lager und stellt eine fortan nicht zu ignorierende Größe dar.

Johnson schnitt sogar schlechter ab als Theresa May Ende 2018, der die Rechte den Kampf angesagt hatte, nachdem sie mit Brüssel einen zu eng an die EU angelehnten Brexit ausgehandelt hatte. Johnson wurde dann im Juli 2019 selbst Premierminister, nachdem May die Konservativen bei den Europawahlen 2019 in ein Wahldesaster mit nur noch 8 Prozent der Stimmen geführt hatte und Nigel Farages kurzlebige Brexit Party triumphierte.

Farage, der eine tiefe persönliche Abneigung für das Tory-Establishment empfindet, äußerte sich jetzt auch hämisch über die gescheiterte Tory-Rebellion gegen Johnson: „Hätten sie mehr Mumm, wäre der Premierminister weg.“ Bei Theresa May hatte es nur sechs Monate nach dem Misstrauensvotum gegen sie gedauert, bis sie entmachtet war. Johnson selbst verwies nach der Abstimmung darauf, dass er mit den 58,8 Prozent der Stimmen der Fraktion mehr Zustimmung bekommen habe als bei seiner Wahl zum Parteiführer 2019, als es nur 51 Prozent gewesen waren.

Für Johnson und seine Getreuen ist das Votum, so schlecht es ausgefallen ist, ein Sieg und damit eine Gelegenheit, die endlose Partygate-Affäre zu beenden. Noch am Montagabend twitterte Finanzminister Rishi Sunak, der zuweilen als möglicher Johnson-Nachfolger gehandelt wird, man werde alle Querelen hinter sich lassen und nun ernsthaft Politik machen. Am Dienstag wurde Johnson selbst deutlicher: Zum Auftakt der wöchentlichen Kabinettssitzung erklärte der Premier vor TV-Kameras, er wolle nun einen „Schlussstrich ziehen unter die Dinge, über die unsere Gegner reden wollen“, und sich um „Steuersenkungen, Kostensenkungen und Reformen“ kümmern – ein Signal in Richtung der Tory-Rechten.

Boris Johnson dürfte sich nun damit beeilen, konservative Bonbons zu verteilen – Klientelpolitik, um die eigenen Reihen im Vorlauf zur nächsten Wahl 2024 ruhigzustellen. Denn die größte Gefahr für konservative Premiers kommt immer von innen, und zwar von rechts – alle Tory-Regierungschefs der letzten 50 Jahre wurden vom eigenen rechten Parteiflügel zu Fall gebracht oder zumindest so weit geschwächt, dass sie die nächsten Wahlen verloren.

Das ultrakonservative Lager tut Johnson schon immer als unseriösen Komiker ab, dem die Ernsthaftigkeit und Zielstrebigkeit einer Margaret Thatcher fehlt und der zu offen für unkonventionelle Ideen ist. Johnsons Politik der staatlich gelenkten Angleichung der Lebensverhältnisse („Levelling up“), um abgehängte Regionen und deren mehrheitlich Brexit-treue Wählerschaft zu stützen, widerspricht dem Neoliberalismus der Thatcher-Nostalgiker, die im Brexit eine Chance zur Deregulierung sahen. Erschrocken sehen sie mit an, dass unter Premier Johnson die Einwanderung stieg und die Steuerquote zugenommen hat und dass seine neue Ehefrau Carrie Johnson ihm grüne Politik gegen den Klimawandel einflüstert.

Die schwarze Kolumnistin Sherelle Jacobs vergleicht Johnsons Amtszeit mit einer griechischen Tragödie

Die Tory-Rechte kann auch mit der libertären Seite des Charakters Boris Johnsons wenig anfangen, die sich in seinem lockeren Umgang mit After-Work-Partys in 10 Downing Street während des Corona-Lockdowns offenbarte. Aus dieser Richtung kam die „Partygate“-Kampagne gegen den Premier, auf die Johnson so dilettantisch, arrogant und lügnerisch reagierte, dass er jegliches Vertrauen verspielte.

Johnsons größter Herausforderer ist nicht die Labour-Opposition. Die liegt zwar in Umfragen vorn, aber nicht spektakulär weit, und tat sich schwer damit, unter dem 2020 als Nachfolger Jeremy Corbyns gewählten Keir Starmer eindeutig gegen Johnson in der Pandemie zu punkten. Gefährlich sind für den Premier neben den eigenen Abgeordneten inzwischen auch die rechten Medien im Land. Dort fand sich am Dienstag kaum ein gutes Wort für Boris Johnson – obwohl dieselben Zeitungen das Misstrauensvotum vorher als überflüssigen, selbstbezogenen „Irrsinn“ (Daily Mail) gegeißelt hatten. Im Daily Telegraph verglich die schwarze rechtskonservative Kolumnistin Sherelle Jacobs Johnsons Amtszeit mit einer griechischen Tragödie: erst Hybris, dann Nemesis – aber der dritte Akt, die moralische Selbstreinigung namens Katharsis, „tritt irgendwie nicht ein“, schrieb sie: „Wenn er doch irgendwann das Amt verlässt, wird er in die Geschichte als ein Premierminister eingehen, der eine Mehrheit wegwarf und die Chancen des Brexits aus dummen und unverständlichen Gründen vertan hat.“

Die nächsten Etappen in Johnsons Niedergang sind vorgezeichnet. Ein neues Misstrauensvotum ist nach geltenden Regeln frühestens in zwölf Monaten möglich. Doch schon am 23. Juni stehen zwei Parlamentsnachwahlen in konservativen Wahlkreisen an. Die Tories könnten die ländliche Region Tiverton & Honiton in Devon im Südwesten Englands an die Liberaldemokraten verlieren, die erst 2019 eroberte Labour-Hochburg Wakefield bei Leeds im Norden Englands dürfte zurück an Labour fallen. Das könnten manche als eindeutige Antwort auf die Frage werten, ob man mit oder ohne Johnson bessere Wahlchancen hat. Und im Herbst steht eine parlamentarische Untersuchung an, ob Johnson in Sachen Partygate vor dem Parlament die Unwahrheit gesagt hat.

Eine Partei im internen Dauerstreit, ohne Ende? Die Tories liefen Gefahr, zu einem „Haufen“ zu verkommen, warnte am Montagabend der Abgeordnete Charles Walker. Der Times-Parlamentskolumnist Quentin Letts korrigierte die Aussage in einer Analyse: „Das stimmt nicht ganz. Die Tories sind mindestens zwei Haufen geworden.“ Vielleicht, so am Dienstag der respektierte Ex-Parteichef und Ex-Außenminister William Hague, wäre es für Boris Johnson besser, freiwillig ehrenhaft abzutreten.

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