Gutachten Sachverständigenrat Migration: Tragende Rolle im Gesundheitswesen

Das deutsche Gesundheitswesen braucht Menschen mit Migrationsgeschichte. Schon heute sei dort je­de*r sechste im Ausland geboren, zeigen Ex­per­t*in­nen auf.

Eine Altepflegerin beugt sich zu einer Frau am Tisch

Altenpflegerin Kraslovske Porici kommt aus Tschechien und unterstützt eine 79jährige beim Frühstück Foto: Jiri Hubatka/picture alliance

BERLIN taz | Petra Bendels Aussage ist eindeutig: Ohne Eingewanderte „stünde das deutsche Gesundheitswesen vor dem Kollaps“, erklärte die Vorsitzende des Sachverständigenrats Migration und Integration (SVR). Am Montag stellte das Gremium in Berlin sein Jahresgutachten vor. Unter dem Titel „Systemrelevant“ gingen die interdisziplinären For­sche­r*in­nen in diesem Jahr der Rolle von Mi­gran­t*in­nen und Menschen mit Migrationshintergrund nach – sowohl als dringend benötigte Fachkräfte, als auch als Patient*innen, die mitunter auf besondere Hürden stoßen.

Unterbesetzte Stationen, nicht einsatzbereite Intensivbetten: Nicht zuletzt die Coronapandemie hat gezeigt, wie massiv das Gesundheitswesen vom Fachkräftemangel betroffen ist – aber auch, welche Rolle Zugewanderte und Menschen mit Migrationshintergrund dort spielen. Schon heute, betont das SVR-Gutachten, sei je­de*r sechste Erwerbstätige in Gesundheits- und Pflegeberufen im Ausland geboren, fast ein Viertel hat einen Migrationshintergrund. Anders als in anderen systemrelevanten Branchen betrifft das nicht in erster Linie prekäre Jobs: Auch unter den Ärz­t*in­nen sei mehr als ein Viertel entweder selbst zugewandert oder das Kind von Zugewanderten. 14 Prozent seien Ausländer*innen, vor allem aus Syrien und Rumänien.

Der Fachkräftemangel in Deutschland ist groß, nicht zuletzt wegen des demografischen Wandels. Die Bundesagentur für Arbeit geht davon aus, dass Deutschland jährlich etwa 400.000 Zu­wan­de­r*in­nen braucht, um den sich verschlimmernden Fachkräftemangel abzubremsen.

Mehr Auszubildende aus dem Ausland

Unter anderem im Lichte dessen hatte die Große Koalition im Jahr 2019 das Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschiedet. Ex­per­t*in­nen warnten aber schon damals, dass dieses nicht ausreiche. Gesundheitsberufe gehören zu den reglementierten Berufen – Fachkräfte müssen nachweisen, dass ihre Qualifikation deutschen Standards entspricht. Das sei auch wichtig, betont der stellvertretende SVR-Vorsitzende Daniel Thym. „Es geht um den Schutz von Patientinnen und Patienten“. Trotzdem sei es wichtig, Prozesse zur Anerkennung von Qualifikationen zu beschleunigen und zu vereinfachen und eventuell nötige Nachqualifizierungen schnell zu ermöglichen, betont der SVR.

Auch plädieren die Ex­per­t*in­nen dafür, mehr Auszubildende aus dem Ausland zu rekrutieren. So würde man zum einen die bürokratischen Anerkennungsverfahren und Nachqualifizierungen umgehen und zum anderen dem sogenannten Brain-Drain aus den Herkunftsländern vorbeugen: der Abwanderung von auch dort dringend gebrauchtem medizinischen Personal.

In einem Punkt geht der Sachverständigenrat über sein eigentliches Arbeitsfeld hinaus: Es sei „unabdingbar, die Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor und besonders in der Pflege grundlegend zu verbessern“, schreiben die Expert*innen. Nur so ließen sich Fachkräfte langfristig halten – und durch Zuwanderung allein sei das Problem ohnehin nicht zu lösen. Auch solle der Blick nicht nur auf ausländische Fachkräfte gerichtet werden, sondern auch auf das „Potenzial von bereits Zugewanderten“, die für Gesundheits- und Pflegeberufe gewonnen werden könnten.

Kinder von Mi­gran­t*in­nen fallen durchs Raster

Der SVR hat sich Mi­gran­t*in­nen und Menschen mit Migrationshintergrund nicht nur als Beschäftigte im Gesundheitsbereich angeschaut, sondern auch als Patient*innen. Auch dieses Thema war während der Pandemie in den Mittelpunkt gerückt, als es hieß, Mi­gran­t*in­nen hätten ein höheres Risiko, sich zu infizieren oder schwere Verläufe zu erleiden.

Die Ex­per­t*in­nen halten fest: „In Deutschland mangelt es an qualitativ hochwertigen und aussagekräftigen Daten“, um verlässliche Aussagen zur gesundheitlichen Situation dieser Gruppen zu machen. Entweder werde in Untersuchungen nur zwischen Deutschen und Aus­län­de­r*in­nen unterschieden oder gar nicht. Eingebürgerte oder mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder von Mi­gran­t*in­nen fielen so durchs Raster, auch gehe es um sehr heterogene Gruppen, die auch entsprechend untersucht werden müssten.

An und für sich sei Migrationsgeschichte kein bestimmender Faktor für die Gesundheit eines Menschen, so die Sachverständigen. Doch noch immer falle das Merkmal „Migrationshintergrund“ statistisch mit einer „ungünstigen sozioökonomischen Lage“ zusammen – und diese ist maßgeblich für den Gesundheitszustand. So lauteten auch viele Erklärungen in der Coronapandemie, dass Menschen mit Migrationsbiografie häufiger als andere in prekären Jobs arbeiten, die nicht ins Homeoffice verlegt werden können. Deshalb seien sie auf den öffentlichen Nahverkehr angewiesen sind und in könnten den direkten Kontakt zu anderen Menschen nicht vermeiden. „Auch Sprachbarrieren und Diskriminierung können den Zugang zum Gesundheitssystem behindern“, heißt es im Gutachten.

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