„Der Krieg schweißt die Menschen in Moldau zusammen“

Neue Unsicherheiten und viel Solidarität: der Osteuropaforscher Ulf Brunnbauer über die veränderte Lage in der Republik Moldau

Gedenkfeier für die Opfer des Transnistrienkrieges am 14. März in Coșnița Fotos: Mikhail Kalarashan

Interview Barbara Oertel

taz am wochenende: Herr Brunnbauer, nur wenige Tage nach dem Beginn von Russlands Krieg gegen die Ukrai­ne hat die Republik Moldau den Beitritt zur Europäischen Union beantragt. Eine kluge Entscheidung?

Ulf Brunnbauer: Dieser Schritt war aus der Not geboren. Denn die moldauische Regierung sieht jetzt, was es für die Sicherheit eines Landes bedeutet, wenn es weder von der EU noch von der Nato geschützt wird. Dennoch ist diese Entscheidung auch das Ergebnis eines längeren Prozesses. Seit drei Jahrzehnten ist das Pendel in Moldau immer zwischen einer proeuropäischen und einer prorussischen Position hin und her geschwungen. Die letzten Wahlen waren aber eine klare Richtungsentscheidung für eine EU-Mitgliedschaft.

Wie sollte sich die EU jetzt dazu verhalten?

Die Verhandlungen mit Moldau und der Ukraine, aber auch mit den Westbalkanstaaten müssen zügig vorangetrieben werden. Brüssel muss die Löcher in der europäischen Integration in Südosteuropa endlich schließen. Bei Georgien plädiere ich aktuell für Zurückhaltung. Da muss sich die EU erst einmal darüber klar werden, ob sie den Kaukasus als Teil von Europa betrachtet.

Könnte Russland diesen Vorstoß von Chișinău als „Kriegserklärung“ verstehen?

Da wage ich keine Prognose. Unstrittig ist aber, dass Moskau das als Akt der Aggression werten wird. Dem Kreml gilt die EU ja mittlerweile als Marionette der USA und als Akteur, der Russland feindlich gesonnen ist. Dennoch glaube ich nicht, dass Moskau deswegen einen weiteren Krieg vom Zaun brechen wird.

Mit der abtrünnigen Region Transnistrien hat es Moldau, ähnlich wie Georgien, auf seinem Territorium mit einem sogenannten eingefrorenen Konflikt zu tun. Wie waren die Beziehungen bis zum Angriff Russlands auf die Ukraine?

Beide Seiten hatten einen Modus vivendi gefunden. Immerhin gab es seit dem Sommer 1992, anders als in Georgien und im Donbass, keine militärischen Auseinandersetzungen mehr. Früher war Trans­nis­trien ein schwarzes Loch. Korruption, Schmuggel- und Waffengeschäfte waren charakteristisch. Das gibt es heutzutage nicht mehr in diesem Ausmaß, die Regierung Moldaus und die Führung in Tiraspol haben durch Vereinbarungen eine gewisse Legalisierung des Handels herbeigeführt. Es gibt wirtschaftlichen Austausch und pragmatische Lösungen für All­tags­pro­ble­me. Bis zum 24. Februar hat nichts darauf hingedeutet, dass die Lage eskalieren könnte.

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine ist die Situation eine andere. In Transnistrien stehen rund 1.500 russische Soldaten, die Führung in Tiraspol hat gerade erst wieder einmal ihre Unabhängigkeit erklärt.

Foto: Juliane Zitzlsperger

Ulf Brunnbauer ist Professor für die Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg und Wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung.

Natürlich gibt es Befürchtungen, dass diese russischen Truppen in die Ukraine einmarschieren, in Richtung Odessa vorstoßen oder gar den Krieg Richtung Westen tragen könnten. Russlands Strategie scheint es zu sein, einen Landkorridor vom Süden der Ukraine über die Krim in den Donbass zu schaffen. Auch Transnistrien könnte ein Teil davon sein. Sollte dieses Szenario eintreten, würde sich die Frage nach der Unabhängigkeit Transnistriens mit einer ganz neuen Dramatik stellen. Andererseits hatte bisher Russland durchaus Interesse am Status quo. Dieser „eingefrorene“ Konflikt war für einen Beitritt Moldaus zur EU oder gar zur Nato hinderlich. Wir haben es jetzt mit einer komplett anderen Dynamik zu tun. Das macht Voraussagen schwierig.

Die Region Gagausien genießt in Moldau einen besonderen Autonomiestatus. Eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung richtet ihren Blick nach Russland. Könnte der Regierung in Chișinău von Ga­gau­sien aus neues Ungemach drohen?

In der Tat leben die Menschen dort weitgehend in einer russischen Medienwelt, viele sind auf Pro-Putin-Kurs. Doch die moldauische Regierung bemüht sich darum, integrative Signale zu senden, um die vorhandenen Bruchlinien nicht weiter zu verstärken. Dabei liegt die Betonung auf Moldaus multiethnischem Charakter, das heißt einer staatsbürgerlichen und keiner ethnischen Identität. Chișinău versucht den Druck von den Gag­aus*­in­nen zu nehmen, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Das Credo lautet: ein Staat, in dem alle gut leben können. Außerdem betont die Regierung, dass die Neutralität, die in der Verfassung steht, nicht zur Disposition steht. Nichtsdestotrotz bleibt das ein Balanceakt.

Könnte der Ukrainekrieg diese fragmentierte Gesellschaft auch zusammenschweißen?

Das passiert bereits. Über 300.000 Flüchtlinge sind aus der Ukraine nach Moldau gekommen, das entspricht mehr als 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Obwohl das Land auf so eine Situation überhaupt nicht vorbereitet ist, sehen wir ein unglaubliches Engagement. Dieses ganze Elend, das geht den Menschen sehr nahe. Da ist jetzt eine innergesellschaftliche Solidarität zu erkennen, die gestärkt ist. Und ich könnte mir vorstellen, dass jetzt auch einigen großen Putin-Freunden so ihre Zweifel kommen.

Welche Rolle spielt Rumänien in diesem Kontext?

Bestrebungen in Bukarest, wie noch Anfang der 1990er Jahre, sich die Republik Moldau einzuverleiben, sind spätestens mit Rumäniens EU-Beitritt 2007 endgültig passé. Seitdem hat Rumänien aber großzügig Pässe an die Mol­dau­er*in­nen verteilt, quasi eine EU-Mitgliedschaft durch die Hintertür. Innerhalb der EU spielt Bukarest eine kons­truk­tive Rolle, weil es sich als eine Art großer Bruder von Moldau versteht. Aktuell ist sich Rumänien als Nachbar der Ukrai­ne seiner Frontlage sehr bewusst. Nicht von ungefähr hat Bukarest die Nato um mehr Schutz gebeten.

Bewaffnetes Fahrzeug an einem Checkpoint: Der Krieg gegen die Ukraine kommt Moldau nahe

Es ist offensichtlich, dass der Kreml beispielsweise auch in Bosnien und Herzegowina seine Finger im Spiel hat.

Solange Wladimir Putin an der Macht ist, wird er auch hier als Zerstörer und Kämpfer gegen den Westen weiter versuchen, Einfluss zu nehmen. Vor allem die serbische bosnische Teilrepublik Republika Srpska ist ein Einfallstor. Doch ich habe den Eindruck, dass das Problembewusstsein der EU dafür gewachsen ist. Man ist nicht mehr bereit, die Umtriebe eines Milorad Dodik (serbischer Vertreter im dreiköpfigen Staatspräsidium Bosniens; Anm. d. Red.) hinzunehmen. Aber auch auf die Regierung in Serbien sollte mehr Druck ausgeübt werden. Das kann die EU, die ja jetzt eine erstaunliche Einheit demonstriert. Die Instrumente dafür hat sie.

So schwer eine Prognose ist: Wird Wladimir Putin weitergehen und seine Truppen auch nach Moldau schicken?

Putin ist von der Idee besessen, der Westen wolle Russland zerstören, er will das russische Imperium wiedererrichten. Er glaubt sich in einem existenziellen Kampf und negiert das Existenzrecht der Ukraine und der ukrainischen Nation. Das, kombiniert mit der Brutalität der russischen Armee, sind Voraussetzungen eines möglichen Völkermords. Dabei verteidigt die Ukraine jetzt die Freiheit Europas. Auch deshalb sollten wir uns auf das Schlimmste einstellen. Das heißt: Wir können die Möglichkeit nicht ausschließen, dass der Kreml sich dafür entscheidet, den Krieg über die Ukrai­ne hinauszutragen.