Drogenkonsum in Syrien und Libanon: Pillen, um dem Leben zu entfliehen

Captagon-Pillen sind in Syrien und Libanon beliebt, um mit dem Alltag umgehen zu können. Der Staat hilft kaum, NGOs springen ein.

Ein Mann schüttet einen Container mit Tee und Pillen auf einem weißen Tischtuch aus.

Pillen im Tee: Drogenfund in Beirut im Januar 2022 Foto: anadolu agency

BEIRUT taz | In Orangen, Milchpackungen, Teebeuteln oder auch in süßem Baklava: Captagon-Produzierende in Syrien und Libanon sind kreativ, wenn es darum geht, die Droge zu verpacken und vor dem Zoll zu ver­stecken. Die Amphetamine sind ein großes Problem in der Levante: Der Krieg in Syrien, der sich gerade zum elften Mal jährt, und die seit 2019 anhaltende Wirtschaftskrise im Libanon haben die Kosten für Medizin, Benzin, Strom und Essen in die Höhe getrieben.

Lokal produziertes Captagon ist billiger als importiertes Essen. Die Droge hat auch den Krieg in Syrien befeuert – Kämpfer aller Seiten nehmen Captagon, um ein Hochgefühl zu haben und konzentrierter zu schießen. Von der Produktion und dem Verkauf wiederum profitiert Syriens Präsident Bashar al-Assad. Captagon ist ein wichtiges Exportgut und eine beachtliche Einnahmequelle. Denn internationale Sanktionen machen es dem Regime schwer, über legale Wege an Geld zu kommen.

Laut des UN-Büros für Drogenbekämpfung wird Captagon hauptsächlich im Libanon und in Syrien hergestellt. Von dort aus geht es vor allem nach Saudi-Arabien, aber auch bis nach Malaysia oder Österreich. 2020 beschlagnahmten Behörden weltweit Pillen im Wert von 3 Milliarden US-Dollar, davon 35 Tonnen alleine aus Syrien. Saudi-Arabien hat im April 2021 den Import von Früchten und Gemüse aus dem Libanon verboten, nachdem der Zoll in der Hafenstadt Jeddah fünf Millionen Captagon-Pillen fand. Die Fracht kam aus dem Libanon, versteckt in Granatäpfeln. Trotzdem ging der Schmuggel weiter, im darauffolgenden Dezember fanden libanesische Behörden nach eigenen Angaben 9 Millionen Pillen, bestimmt für den Golf.

Die Generaldirektion für Drogenkontrolle in Saudi-Arabien sagt, sie hätten in den vergangenen sechs Jahren 600 Millionen Amphetaminpillen beschlagnahmt. Der Sprecher der Direktion beschuldigte die Hisbollah-Terrormiliz, „die Hauptquelle zu sein, die sie schmuggelt und herstellt“. Die schiitische Partei und Miliz kommt aus dem Libanon und wird finanziell vom Iran unterstützt. Die Partei bestreitet die Anschuldigungen. Es ist aber gut möglich, dass auch ihre Kämpfer die Droge genommen haben, um dem Assad-Regime im Kampf gegen Oppositionelle zu helfen.

Drogen als Flucht aus dem schwierigen Alltag

„Captagon ist ein Upper“, erklärt Tatyana Sleiman, Geschäftsführerin des libanesischen Suchtzentrums Skoun. „Es macht wach und energetisch, lässt einen drei Nächte durchmachen. Es reduziert das Hungergefühl und das Kälteempfinden. Es ist die optimale Droge für Menschen, die kämpfen, weil es ihre Ausdauer erhöht und den Essensbedarf verringert.“

Nicht nur in Syrien, sondern auch im Libanon ist Captagon beliebt, um Alltagsproblemen zu entgehen. Die libanesische Lira hat rund 90 Prozent ihres Wertes verloren. Benzin, Medizin, selbst Brot und Reis sind seit 2019 um das bis zu 20-Fache teurer geworden. In den Häusern sind keine Heizkörper verbaut, auch im März noch zieht der Wind durch die dünnen Wohnungswände. Es gibt nur zwei Stunden am Tag Strom, die Preise für Stromgeneratoren übersteigen längst die Kaltmieten. Vor allem im Nordlibanon, in der Nähe der Grenze zu Syrien, greifen viele zur günstigen Captagon-Pille, um mit alledem umzugehen.

Entwickelt wurde Captagon im Jahr 1961 von dem deutschen Pharmaunternehmen Degussa. Das Medikament sollte Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) und die Schlafkrankheit Narkolepsie behandeln. In den 1980er Jahren verboten jedoch viele Staaten das Medikament, da es stark abhängig machen kann.

Die gemeinnützige Organisation Skoun ist die erste ambulante therapeutische Einrichtung für Drogensüchtige im Libanon. Sie helfen Drogenabhängigen, mit der Sucht umzugehen und die Schäden zu begrenzen. Außerdem klären sie in Schulen über Drogensucht auf.

Mit der Wirtschaftskrise kämen auch Menschen aus zuvor höheren sozialen Schichten, die sich nun die Therapie in privaten Kliniken oder im Ausland nicht mehr leisten können, sagt Geschäftsführerin Sleiman. „Wer arm ist, lässt sich heute im Libanon nicht so leicht sagen. Jemand, der Hunderttausend US-Dollar auf einem Bankkonto hat, sie aber nicht ausgezahlt bekommt, kann heute als arm betrachtet werden.“ Mit der Finanzkrise stoppten die Banken die Auszahlung von US-Dollar – sonst eine gängige Währung. Auch das Gehalt gut ausgebildeter Menschen wie Ärz­t*in­nen schrumpfte um das 20-Fache.

Personalmangel erschwert die Behandlung

„Das große Problem, das wir heute haben, ist nicht unbedingt, welche Schicht zu uns kommt. Es ist eher die Tatsache, dass wir im Libanon nicht mehr genügend personelle Ressourcen haben, um zu behandeln. Wir haben vielleicht noch 20 von den insgesamt 90 Psychiater*innen, die wir landesweit hatten. Viele The­ra­peu­t*in­nen und Pfle­ge­r*in­nen sind gegangen.“

Ein Psychiater gibt weiter Onlinesessions aus dem Ausland. Und die Organisation hat das Glück, ihre Angestellten in Dollar bezahlen zu können. Ihre Geld­ge­be­r*in­nen kommen aus dem Ausland. So konnte Skoun unter anderem 501 Menschen mit 3.600 Therapie-Einheiten helfen. Das Ziel ist dabei, statt eines kalten Entzugs die Schäden zu begrenzen. „Wir erkennen an, dass Menschen Drogen wie Haschisch oder Alkohol als Selbstmedikation nehmen. Deshalb versuchen wir, deutlich zu machen, dass die Situation, so schlimm sie auch ist, nur temporär ist, es aber weitaus schlimmere Folgen hat, wenn sie ihre Gesundheit schädigen.“

Statt die Politiker, Businessmänner und Drogenbosse festzunehmen, sitzen in den libanesischen Gefängnissen die Konsument*innen. Jährlich, sagt Sleiman, würden 3.000 Menschen wegen Drogenkonsums festgenommen. Manche kommen statt ins Gefängnis in Behandlung. „Unser Gesetz garantiert das Recht auf den Zugang zur Behandlung. Anstatt dass sie im Gefängnis landen, bringen wir sie in Behandlungszentren. Und dann kommunizieren wir direkt mit dem Justizministerium, dass sie in Behandlung sind.“ Gehen sie regelmäßig zur Sitzung, wird nach sechs Monaten der Eintrag aus dem Strafregister gelöscht.

Hilfe statt Kriminalisierung

Skoun fordert die Dekriminalisierung von Drogenkonsum. „Die Beweislage weltweit ist klar: Der Krieg gegen Drogen ist nicht durch die Kriminalisierung von Dro­gen­kon­su­men­t*in­nen erreicht worden. Im Gegenteil, die Nachfrage und das Angebot von Drogen haben die Drogenkriminalität erhöht.“ Stattdessen wünscht sich Sleiman einen „gesundheitsorientierten“ Ansatz. Das Gesundheitsministerium unterstütze die Idee, den Menschen „die Pflege zu bieten, die sie brauchen, statt sie im Gefängnis zu bestrafen“. „Wir haben dem Parlament einen Gesetzentwurf vorgelegt. Der liegt jetzt seit vier Jahren im Parlament.“ Die Organisation versucht, den Entwurf bei einigen Abgeordneten wieder ins Gedächtnis zu bringen, damit er im Parlament auf die Agenda kommt.

Mitten in der Wirtschaftskrise scheint das kein dringendes Prob­lem zu sein. Doch die Reform der Drogenpolitik könnte hilfreich für die allgemeine Gesundheit sein. Und nicht nur das: Statt Menschen einzusperren, spart der Staat Geld und entlastet so zumindest etwas die marode Staatskasse. Im Libanon stehen bald Wahlen an. Vielleicht regt das einige Po­li­ti­ke­r*in­nen an, sich dem Problem anzunehmen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.