Krise im Libanon: „Große Bewegung nach draußen“

Wegen Hyperinflation, Benzin- und Strommangel möchten viele Menschen den Libanon verlassen. Entsteht eine neue Fluchtroute?

Eine Frau blickt in die Weite in Richtung des Meers, um sie herum steinige Landschaft mit einigen Büschen

Auf dem Weg von Beirut nach Tripoli. Von dort starten viele auf den Weg nach Zypern Foto: Robin Tutenges/Hans Lucas/afp

BEIRUT taz | Erst in der vergangenen Woche hatte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, bei einem Besuch im Libanon gewarnt: „Wertvolle Güter wie Öl und Benzin werden außer Landes geschmuggelt. Ebenso geht es um Flüchtlingstransfers.“ Deutschland beteiligt sich an der UN-Truppe, die Waffenschmuggel in den Libanon unterbinden soll. Jetzt erklärte Deutschlands ranghöchster Soldat, dass daneben aber andere Themen in den Vordergrund gerückt seien: Geflüchtete würden mit Booten in Richtung Zypern gebracht. Entsteht hier ein neuer wesentlicher Fluchtweg nach Europa?

„Ich würde noch nicht von einer Migrationsroute sprechen“, sagt Anna Fleischer, Direktorin des Beiruter Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. So waren etwa Ende Juli 88 Menschen von Tripoli im Norden auf einem Boot nach Zypern aufgebrochen und vor Zypern aufgegriffen worden. Der zypriotischen Küstenwache wird vorgeworfen, sie zurückzudrängen, auszusetzen oder zurückzuführen – ohne Möglichkeit auf Asylanträge.

„Diese Route ist extrem vulnerabel, nicht nur durch den Seeweg, sondern weil die Pushbacks zeigen, wie die zypriotische Regierung damit umgeht“, sagt Fleischer. Falls Zypern die Mi­gran­t*in­nen zurückschicke, müssten sie die Route erneut auf unsicheren Booten bewältigen. Momentan gibt es keine Landroute aus dem Libanon heraus. Sämtliche Fluchtwege über das Meer sind allerdings gefährlich: Seit 2014 sind nach Angaben der Flüchtlingsagentur UNHCR über 21.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken.

„Die Leute, die sich vereinzelt aufmachen, sind eher ein Symp­tom des Kollapses, der bis jetzt so in Berlin und Brüssel nicht voll angekommen ist“, sagt Fleischer. Die lokale Währung hat seit der schon zwei Jahre dauernden schweren Wirtschafts- und Finanzkrise mehr als 90 Prozent ihres Wertes eingebüßt. Es mangelt an Medizin, Benzin und Strom.

Im Land leben 1,5 Millionen Geflüchtete

Im Libanon leben rund 6 Millionen Menschen, rund 1,5 Millionen davon sind syrische Geflüchtete. Entwicklungsgelder hatten bisher viele Sy­re­r*in­nen im Land gehalten. Auch Deutschland investierte in In­frastrukturprojekte, um Flucht­ursachen zu verhindern. Doch wegen Corona haben Tagelöhner ihre Arbeit verloren, den Menschen in Geflüchtetencamps fällt dadurch ihr Lebensunterhalt weg. Sie sehen deshalb die Boote nach Europa als letzten Ausweg – aber auch Li­ba­ne­s*in­nen selbst ergeht es so. Schätzungen der Weltbank zufolge hat seit Herbst 2019 je­de*r Fünfte seinen Arbeitsplatz verloren.

Dem Krisenobservatorium der Amerikanischen Universität Beirut zufolge verließen Tausende Menschen das Land seit Beginn der Wirtschaftskrise 2019, mindestens drei Viertel der jungen Li­ba­ne­s*in­nen wollten auswandern.

„Natürlich sind jetzt nicht alle aufgebrochen, aber es gibt eine große Bewegung nach draußen“, sagt Fleischer. Europa ist nicht der einzige Anlaufpunkt: In ihrem Umfeld habe fast je­de*r eine Bewerbung in Kanada laufen, da das Migrationsverfahren dort übersichtlich sei, so Fleischer. Die Privatwirtschaft fasse den Handel in Afrika ins Auge, Möbel- und Kosmetikfirmen oder PR Agenturen orientierten sich an der Kundschaft im Golf. „Allerdings merken die Libanes*innen, dass ihr Marktwert sinkt, auch Ärz­t*in­nen bekommen in anderen Ländern niedrigere Löhne angeboten.“

Schwer haben es zudem Ar­bei­te­r*in­nen aus dem Sudan, Äthiopien oder den Philippinen. Sie kamen in den Libanon, um zu arbeiten und ihren Familien in der Heimat US-Dollar zu schicken. Weil das sonst gängige Zahlungsmittel im Land nicht mehr verfügbar ist, sitzen viele vor den Botschaften ihrer Länder und warten darauf, ausgeflogen zu werden. Von ihren Ar­beit­ge­be­r*in­nen wurden sie vor die Tür gesetzt.

Die Vereinten Nationen (UN) haben ihre Hilfsgeldzahlungen auf Lira umgestellt. Im Juni wurde bekannt, dass die Banken durch schlechte Umrechnungskurse Gewinne machten, während die Emp­fän­ge­r*in­nen insgesamt über 200 Millionen US-Dollar weniger bekamen.

Seit 2012 hat Deutschland 825 Millionen Euro für humanitäre Hilfe bereitgestellt

Für Sy­re­r*in­nen ist es auch schwer und gefährlich zurückzugehen. Für Männer gilt noch immer der Militärdienst, wer sich dessen durch Flucht verweigert hat, kann im Gefängnis landen. Das Assad-Regime bestraft Rückkehrende mit Folter. „Gerade Frauen haben starke Angst vor sexualisierter Gewalt seitens des Regimes“, sagt Fleischer.

Deutschland hat seit 2012 insgesamt 825 Millionen Euro für humanitäre Hilfe in Libanon bereitgestellt, davon allein im Jahr 2020 fast 150 Millionen Euro. Weitere 335 Millionen Euro stehen bereit. Sie werden laut Auswärtigem Amt ausgezahlt, „wenn es wieder eine handlungsfähige libanesische Regierung gibt, die die politischen und wirtschaftlichen Reformen durchführt“.

Als Konsequenz des Geldflusses sollten außer den bereits etwa aus Syrien nach Libanon Geflüchteten auch die Aufnahmegemeinden mitgedacht werden, so Fleischer. Die Böll-Stiftung lege ihren Fokus darauf, lokale Ak­teu­r*in­nen zu stärken – beispielsweise in der Ausformulierung von Reformen oder Ansätzen, das Wahlsystem demokratischer zu gestalten. „Der Staat ist nicht funktionsfähig. Aber ich bin überzeugt, dass es immer noch Menschen in diesem Land gibt, die eine Alternative darstellen zu der Elite, die sich entschieden haben zu bleiben und die weiterhin an einer besseren Zukunft arbeiten.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.