Inszenierung des Kriegs auf Tiktok: Moonwalk auf dem Schlachtfeld

Manche nennen den Krieg in der Ukraine schon den ersten „Tiktok-Krieg“: Was bedeutet das für unsere Wahrnehmung des Konflikts?

Das Logo von TikTok

Tiktok unterscheidet sich maßgeblich von anderen sozialen Netzwerken Foto: Avishek Das/imago

Der Ukraine-Krieg war noch keine paar Stunden alt, da tauchten auf Tiktok schon die ersten verwackelten Handyvideos auf. Reservisten beim Schießtraining. Panzerkolonnen, die auf Kiew zurollen. Russische Kampfjets, die am Himmel aufsteigen. Der chinesische Social-Media-Dienst ist zu einer der wichtigsten Quellen im Ukraine-Krieg geworden. In den TV-Nachrichten laufen die Bilder im Hochformat der Handy­kameras rauf und runter. Die Kommentatoren sprechen bereits vom „ersten Tiktok-Krieg“.

Der erste „Social-Media-Krieg“ zumindest ist es jedoch nicht. Bereits im 2011 ausgebrochenen Bürgerkrieg in Syrien spielten soziale Medien eine wichtige Rolle: Nach dem Giftgasangriff von Ghuta 2013 durch Diktator Baschar al-Assad kursierten in sozialen Netzwerken Fotos und Videos von Opfern, die als Beweismaterial auch von den Vereinten Nationen gesichtet wurden. Die Liveaufnahmen, die todesmutige Videoaktivisten mit ihren Handykameras machten, waren anders als die perfekt inszenierten, durchchoreografierten Fernsehbilder, die CNN noch im Ersten Golfkrieg 1991 in die Welt sendete: Sie zeigten die Wirklichkeit nicht als hollywoodreifes Blockbuster-Kino, sondern als große Vergeblichkeit.

In den Zehnerjahren glaubte man noch uneingeschränkt an das emanzipatorische Potenzial digitaler Technologien. Das Smartphone sei eine stärkere Waffe als Panzer und Raketen, hieß es. Natürlich war solcher Technikglaube schon immer naiv, weil Terroristen und autoritäre Regime diese Werkzeuge ebenso für ihre Zwecke nutzen können. Auch auf Tiktok tobt heute ein Informationskrieg. Doch die zusammengeschnittenen, mit Musik und Emojis unterlegten Videoclips sind von ganz anderer Qualität und Machart als die ungefilterten Facebook-Livestreams. Sie sind emotionaler, bunter, schriller.

Da sieht man zum Beispiel einen Soldaten, der in Uniform auf einem Getreideacker einen Moonwalk hinlegt. Der Clip, der mit dem Michael-Jackson-Song „Smooth Criminal“ unterlegt ist, hat über 13,6 Millionen Likes bekommen. In den Kommentaren finden sich Bemerkungen wie: „Ey Nicer Helm ist der von uns?“ Eine Anspielung an die Lieferung von 5.000 Bundeswehrhelmen an die Ukraine. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Soll das Situa­tions­komik sein? Galgenhumor? Eine Dance-Battle?

Tänzeln von einem Extrem ins nächste

Vor wenigen Tagen ging ein Video viral, in dem eine ukrainische Influencerin demonstriert, wie man einen russischen Panzer fährt – wie sich später herausstellte, war das Video jedoch ein Jahr alt und damit ein Fake. Auch der Moonwalk des Manns in Uniform lässt sich schwer verifizieren. Die Tanzeinlage kann irgendwo auf der Welt aufgenommen worden sein, es muss auch kein ukrainischer oder russischer Soldat sein. Das scheint aber längst nicht mehr entscheidend.

Als jemand, der nicht der Generation Z angehört, muss man sagen, dass das schon ein sehr spezieller Humor ist auf Tiktok. Da mischen sich Pranks mit Liveaufnahmen aus dem Häuserkampf, wird eine Putin-Rede mit dem Radetzky-Marsch untermalt, singt ein Kampfjetpilot „Danger Zone“ von Kenny Loggins. Als wäre das der Soundtrack des Krieges.

Bei Tiktok gibt es keinen Kontext, keine Relevanzkriterien, nicht mal eine Storyline

Die Sequenzen, die der Algorithmus zu einem digitalen Daumenkino zusammenklebt, sind häufig disparat, aber sie gehorchen – und das ist das Erfolgsrezept in einer Aufmerksamkeitsökonomie – einer immanenten Eskalations- und Steigerungslogik.

Man tänzelt von einem Ex­trem ins nächste. Auf die Aufnahmen aus einer zerbombten Stadt folgt ein Clip eines ukrainischen Soldaten, der mit einer Panzerfaust versucht, eine russische MIG-29 abzuschießen, was wiederum getoppt wird vom Atompilz einer taktischen Nuklearbombe, die angeblich über Kiew gezündet wurde. Es ist der Konsum des Krieges: Man ertappt sich dabei, wie man über Mörsergranaten wischt, als wäre es ein Tinder-Profil.

Screenshot eines Postings bei TikTok, Mann in Uniform tanzt

Viral, aber nicht verifizierbar: Der „Moonwalk“ bei Tiktok Screenshot: taz

Medien, die „heiß“ machen

Der Medientheoretiker Marshall McLuhan hat das Fernsehen mal als „kaltes Medium“ bezeichnet. Im Gegensatz zu „heißen Medien“ wie Film oder Zeitung vermitteln „kalte“ Medien wenige Informationen – und verlangen daher ein höheres Engagement beim Zuschauer. Beim Schwarz-Weiß-Fernsehen fehlt die Farbe, beim analogen Telefon jegliches Bild. Der Empfänger ergänzt daher die fehlenden Informationen selbst. Der Vietnam-Krieg gilt nicht nur als erster Fernsehkrieg der Geschichte, sondern auch als „Livingroom War“: Er reduzierte zwar die Distanzen zwischen Schlachtfeld und Sofa im elektronischen Dorf, stumpfte aber auf Dauer auch ab.

Tiktok ist nun dem Kino wieder deutlich näher als dem Fernsehen, weil es seine Zuschauer mit Spezial- und Derealisierungseffekten „heiß“ macht. Da sieht man aus der Egoshooter-Perspektive einen russischen Panzer durch ein ukrainisches Dorf fahren, als wäre es ein Computerspiel. Gleichzeitig stammt das bombastische „Filmmaterial“ von Fliegerangriffen teils aus dem Computer-Militär­simulationsspiel „Arma 3“. Wo Computersimulationen immer realistischer werden, wird die Realität immer simulatorischer. Selbst das geschulte Auge kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob die Bilder real oder Fiktion sind.

Der französische Soziologe Jean Baudrillard schrieb in seinem Essayband „The Gulf War Did Not Take Place“ (1991), dass die Fernsehbilder die „Illusion des Krieges“ erzeugen würden. Das Medium mache die Wirklichkeit „virtuell“. Die Bilder von Nachtsichtgeräten oder Livestreams von zielgenauen Raketeneinschlägen, die man auf seinem Bildschirm sehe, seien letztlich nur die Computersimulation einer elektronischen Kriegsführung.

Der Krieg selbst, so Baudrillard, finde gar nicht statt, er sei „irreal“.

Zappen auf Steroiden

Mit diesem postmodernen Spin wäre man vor ein paar Jahren noch in Verdacht geraten, die Realität zu leugnen und Faktenverdrehern ein ideologisches Fundament zu liefern (siehe auch die Debatte zur Postmoderne und Trump). Doch die „Referenzlosigkeit“ der Bilder, von der Baudrillard sprach, lässt sich in dem endlosen Informationsstrom von Tiktok gut beobachten. Die Videoplattform ist das genaue Gegenteil von Framing: Es gibt kein Bedeutungsumfeld, auch keinen embedded journalism, wie man es aus dem Irak oder Afghanistan kennt, keine narrative Ordnung, keine Kriterien für Relevanz, nicht mal eine Storyline. Es ist wie Zappen auf Steroiden.

Und doch ist der Bilderrausch keine Zufallsproduktion, sondern ein individuell auf den Konsumenten zugeschnittenes Programm. Der Journalist Chris Stokel-Walker hat im Magazin Wired geschrieben, dass Tiktok mit seiner algorithmischen Mechanik „für den Krieg designt“ worden sei. Dieses Design, das Nutzer in einen „immersiven, endlosen Strom von peppig-zackigen Inhalten“ werfe, sei darauf angelegt, die „Aufmerksamkeit zu monopolisieren“.

Wenn man bedenkt, dass der chinesische Staat beim Tiktok-Mutterkonzern Bytedance beteiligt ist, scheint hier eine unheilvolle Allianz zwischen russischen Bildproduzenten und chinesischen Software­inge­nieuren auf. Tanzen wir alle nach der Nase Pekings? Es gibt gewiss kein Skript, nach dem digitale Öffentlichkeiten funktionieren. Aber im Kampf der Bilder, der jeder Krieg immer auch ist, ist China mehr Akteur als Zuschauer. Was wir auf unseren Bildschirmen sehen und was nicht, wird letztlich auch in Peking entschieden.

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