Hochwürden, noch ein Bier!

Der Münchner Pfarrer Rainer Maria Schießler kennt das Oktoberfest wie kaum ein Geistlicher. Viele Jahre hat er dort als Bedienung gearbeitet. Zum Auftakt am Samstag ist er froh, dass es die Wiesn überhaupt noch gibt

Nicht immer sparsam: Der Umgang mit Lebensmitteln auf der Wiesn Foto: Peter Marlow/Magnum Photos/Agnetur Focus

Interview Dominik Baur

taz: Herr Pfarrer, am Samstag geht’s wieder los: 17 Tage lang Feierlaune, Fahrgeschäfte und Festbier. Wie werden Sie nach zwei Jahren Abstinenz die Rückkehr der Wiesn begehen?

Rainer Maria Schießler: Ich bin erst in der zweiten Woche in München. Ich habe meinen Urlaub extra so gelegt, dass ich gar nicht erst in die Gefahr gerate, wieder zu bedienen. Denn es juckt mich immer dermaßen. Aber die Vernunft sagt: Nicht rückfällig werden! Du hast damit abgeschlossen, du bist alt, das ist was für Junge. Deshalb bin ich jetzt in der ersten Woche in der ­Bretagne, ganz weit weg.

Aber in der zweiten Woche gehen Sie schon raus aufs Oktoberfest?

Ja, natürlich. Da freue ich mich auch schon drauf. Ich habe schon etliche Einladungen. Allen voran besuche ich natürlich meine ehemaligen Kollegen im Schottenhamel, dem Bierzelt, wo ich jahrelang bedient habe. Aber ich werde mich da nicht durchfressen und -saufen. Das ist nicht mein Stil, sondern ich sage einfach Grüß Gott und nehme für einen Moment Teil an dem Fest. Ich fahre auch keine Achterbahn, kaufe mir keinen türkischen Honig, keine Zuckerwatte. Sondern ich trinke eine Mass Bier, ess’ a Stückerl Brezn und genieß’ einfach nur, da zu sein.

Kein Hendl?

Nein, da habe ich zehn Jahre lang zu viele verkauft.

Und bei der einen Mass bleibt es dann auch?

Ja, mehr vertrage ich nicht. Die zweite würde mir gar nicht mehr schmecken. Und bei der ersten ist der erste Schluck eh der allerbeste.

Hat Ihnen die Wiesn gefehlt?

Sehr. Für mich ist es ganz wichtig, dass sie wieder stattfindet. Wäre sie jetzt ein drittes Mal ausgefallen, weiß ich nicht, ob wir sie nicht für immer verloren hätten. Das war für uns Münchner eine unglaublich schwere Sache, nicht nur ökonomisch, auch psychologisch. Die Wiesn ist ja Teil unseres Lebensgefühls, und das ist einfach weggebrochen. Deshalb bin ich auch allen kleineren Volksfesten dankbar, die – trotz Corona – vorher gefeiert haben, und die gezeigt haben: Es geht.

Aber jüngst nach dem Gäubodenfest in Straubing, der kleinen Schwester der Wiesn, sind dort die Infektionszahlen in die Höhe geschnellt. Und das Oktoberfest ist um einiges größer und internationaler.

Ja, die Inzidenzen waren hoch, aber nicht die Hospitalisierung. Natürlich werden sich viele infizieren da draußen. Den perfekten Schutz gibt es nicht, aber die Krankenhäuser werden nicht überlaufen. Und das ist das Wichtigste.

Sie haben zwischen 2006 und 2018 insgesamt zehn Mal auf der Wiesn bedient, jetzt haben Sie Ihre Erfahrungen in dem Buch „Wiesn-Glück“ aufgeschrieben.

Mir geht es aber nicht nur um die zehn Jahre. Die Wiesn hat mich ja schon als kleines Kind begleitet. Ich bin in Laim drüben aufgewachsen, in einem Mietshaus im dritten Stock, und vom Balkon aus haben wir den Lichtkegel im Osten gesehen, wo die Wiesn war, und wenn der Wind gut stand, konnten wir sie sogar riechen – diese Mischung aus süßen Mandeln und Hendl. Die Wiesn hat einen ganz eigenen Duft.

Sie nennen Ihr Buch eine „Liebeserklärung“, beschreiben die Wiesn als Kulturgut, Tradition und Heimat, Auftrag und Geschenk, Verpflichtung und kreative Möglichkeit. Ich war schon beruhigt, dass Sie als Kirchenmann nicht auch noch von einem „Hochamt der Zwischenmenschlichkeit“ gesprochen haben.

Dafür sind so ein paar Verweise auf die Apostelgeschichte und das Buch Jesaja drin.

Rainer Maria Schießler

Foto: STL/imago

Jahrgang 1960, ist katholischer Pfarrer aus München. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt „Wiesn-Glück: Eine Liebeserklärung“. Er hatte zudem eine eigene Talkshow beim BR.

Auch auf die Speisung der 5.000.

Das drängt sich ja auf. Aber die schönste Bibelassoziation ist für mich immer noch die der Gemeinschaft ohne Standesunterschiede im Neuen Testament. Das Unterscheidende dieser jungen christlichen Gemeinde war ja dieses Leben ohne Unterschiede, ohne Standesunterschiede. Diese Tischgemeinschaft, die diese Christen da gebildet haben. Und dieses Bild hatte ich immer im Kopf. Und dann schaust du von der Galerie runter ins Zelt und siehst all diese Menschen, die am Nachmittag noch in verschiedenen Büros gearbeitet haben, wo der eine vielleicht der Vorgesetzte von der anderen ist, aber jetzt tanzen sie gemeinsam, sind alle gleich! Und sag mir bitte nicht, dass das nur der Alkohol ist! Manche trinken keinen Tropfen und erfahren trotzdem dieses Gemeinschaftserlebnis.

Als Bedienung ist man ja nicht wirklich Teil davon.

Ja und nein. Du bist ein Bestandteil dieses Konstrukts Bierzelt, das es möglich macht, dass die Menschen da feiern können. Du trägst dazu bei, indem du Essen und Trinken bringst, indem du mit den Leuten flirtest und Jux und Gaudi machst. Damit bist du ein Teil dieser guten Stimmung. Mein Naturell wäre es sowieso nicht, mich als Gast auf die Bierbank zu stellen und „Komm, hol das Lasso raus“ zu singen. Aber ich genieße es, Menschen zu sehen, die so ausgelassen sein können.

Nicht einmal bei Ihrem Lieblings-Wiesnhit „Sweet Home Alabama“ steigen Sie auf die Bank?

Nein, da stehe ich, tief in mir ruhend, sinnierend irgendwo im Zelt. Denke an meinen Dammerl, einen sehr guten, inzwischen leider verstorbenen Freund, der in der Kapelle gespielt hat, und bin innerlich glücklich ohne Ende.

Wie kam es überhaupt, dass Sie als Pfarrer Wiesn-Bedienung wurden?

Das war mein loses Mundwerk. Das war einfach schneller als Hirn. Ich bin auf einem Empfang jemandem aus der Familie Schottenhamel vorgestellt worden und habe ihn plötzlich gefragt: „Könnte ich mal bei Ihnen im Bierzelt arbeiten?“ Ich hatte mich davor nie mit diesem Gedanken getragen. Aber plötzlich war die Frage da. Und noch während ich gefragt habe, war mir eigentlich klar, dass ich eine Absage bekomme. Stattdessen hieß es sofort: „Ja natürlich.“

Und dann haben Sie es sich nicht noch einmal überlegt?

Nein. Aus der Nummer konnte ich nicht mehr raus.

Wie viele Krüge haben Sie denn gleichzeitig gestemmt?

„Es juckt mich dermaßen, dort wieder zu bedienen. Aber die Vernunft sagt: Nicht rückfällig werden!“

Also ein normales Mannsbild trägt vierzehn Mass, sieben in jeder Hand. Notfalls kann man noch eine 15. dazwischen einzwicken.

Das sind über 30 Kilo.

Es ist aber nicht nur eine Sache der Muskeln. Du musst vor allem mental stark sein. Und du musst immer alles bedenken: Wie lang ist die Strecke, die du gehen musst? Ist der Weg frei oder musst du durchs Gedränge? Was machst du, wenn du mal nicht mehr kannst? Wo kannst du die Krüge abstellen? Wenn sie dir runterfallen, ist das ja dein Verlust. Du bist als Bedienung Subunternehmer.

Eines der wichtigsten Themen der Münchner Lokalpresse ist ja jedes Jahr der Bierpreis …

Ich kann mich daran nicht abarbeiten. Gehe ich in ein Wirtshaus, kostet dort die Halbe Bier auch 4,50 Euro, also 9 Euro pro Liter. Wenn man dann berücksichtigt, dass das Oktoberfestbier nach einem speziellen Verfahren gebraut wird, und die Location einzigartig ist, ist der Preis schon gerechtfertigt.

Gibt es denn überhaupt Aspekte der Wiesn, die Sie kritisch sehen?

Was mir schon immer wieder negativ aufgestoßen ist, ist der Umgang mit Lebensmitteln. Ich finde, der Satz im Grundgesetz „Eigentum verpflichtet“ beginnt nicht bei der Eigentumswohnung, sondern auf meinem Teller. Einmal musste ich einen fast vollen Teller wegschmeißen. Ein Kollege, der im Winter in Kolumbien lebt, stand neben mir und sagte: In meinem Dorf würden da jetzt zehn Leute herumsitzen und ein Fest feiern. Der Satz hat sich in mir eingebrannt. Aber da kann die Wiesn nichts ändern, da müssen wir uns ändern.