Flucht aus Kiew per Bahn: Froh, einander zu haben

Die Hauptstadt der Ukraine wird bombardiert. Wer kann, steigt in den Zug und geht. Aber das ist nicht so einfach.

Eine Frau sitzt in einem vollen Zug mit einem Kind auf dem Arm

Evakuierungszug von Kiew nach Lwiw am Kiewer Hauptbahnhof am 11. März Foto: Gleb Garanich/reuters

Ich wache auf, weil Alja mich weckt und sagt, dass der Zug in einer Stunde ankommt. Wir hatten mit einer anderen Zeit gerechnet, weil sich die Fahrpläne gerade jeden Tag ändern.

Wir frühstücken schnell ein paar Käsebrote, dann laufen wir los zum Bahnhof Darnizja (Vorortbahnhof im gleichnamigen Kiewer Stadtteil; Anm. d. Redaktion). Es schneit, wir haben kalte Hände, irgendwo aus weiter Entfernung heulen Sirenen, und wir schlendern, als wären wir auf einem leichten Lauf, mit Rucksäcken auf dem Rücken.

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Am Bahnhof sagen sie uns, dass sie nur Frauen und Kinder in den Zug lassen würden. Alja steigt ein und sieht mich an, als warte sie darauf, dass ich auch einsteigen würde. Ich gehe zur Schaffnerin, die neben der Waggontür steht und die Menschen einsteigen lässt, und sage: „Ich bin mit diesem Mädchen hier“, und zeige auf Alja. Sie sieht mich an, dann Alja, dann wieder mich, und dann sagt sie halblaut: „Steig ein“. Ich renne los. Die Männer, die neben mir auf dem Bahnsteig stehen, schreien „Halt! Wo willst du hin?“ Und so in der Art. Aber ich bin schon im Zug, und es gibt für mich schon keinen Weg zurück.

Im Zug gibt es keine Sitzplätze mehr. Darum stehen wir oder sitzen im Gang. Als wir nicht mehr stehen können, bitten wir die Frau, die neben uns sitzt, um ihre Tasche und setzten uns darauf. Aber auch so kann man sich nicht ausruhen, die Beine schlafen ein, die Knie schmerzen, ich fühle mich wie ein Großvater, der mit zusammengebissenen Zähnen schweigt, während Müdigkeit und Ausweglosigkeit in seinem Blick liegen.

Der Zug ist voller Menschen, viele mit ihren Kindern und Haustieren. Höchstens zehn Männer sind darunter, Teenager und Alte nicht mitgerechnet. Viele Menschen haben Tränen in den Augen, einige wegen des Krieges, andere wegen der Sorge um ihre Angehörigen. Mit der Zeit trocknen die Tränen und lassen verschmierte Gesichter zurück. Blicke der Angst, Blicke der Erschöpfung, Blicke der Hoffnungslosigkeit. Blicke von Frauen mit Kindern, ohne Männer. Von Frauen mit Haustieren.

Neben mir sitzt eine Familie: Opa, Oma, Mann und Frau, Kinder. Sie wirken glücklich, niemand von ihnen weint. Nur die alten Leute haben von Zeit zu Zeit Angst in ihren Blicken. Ich sehe, wie die Frau und der Mann abwechselnd das Kleinkind auf dem Arm halten, ihre Augen strahlen. Sie sind froh, dass sie einander haben, dass sie zusammen sind, dass in diesem einen Moment alles gut ist.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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23 Jahre, Chemiker aus Mykolajiwka, Ostukraine. Studium in Kyjiw, lebte mit Kriegsbeginn zwischenzeitlich in Lwiw. Kehrte dann nach Kyjiw zurück. Hilft Jour­na­lis­t*in­nen vor Ort. Und schreibt selbst Berichte.

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Eine Illustration. Ein riesiger Stift, der in ein aufgeschlagenes Buch schreibt.

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