Handelsabkommen zu E-Commerce: Industrieparadies in Planung

In der Welthandelsorganisation verhandeln die Staaten über einen Vertrag zu digitalem Handel. Geht es nur um mehr Macht für die Konzerne?

Indisches Callcenter für Kunden in Europa

Wird das globale Ungleichgewicht noch vergrößert? Foto: Joerg Boethling/imago

BERLIN taz | Onlineplattformen, die sich nicht darum kümmern müssen, ob Nut­ze­r:in­nen Hassbotschaften oder Illegales posten. Niedrige Datenschutzstandards. Ein Verbot für Gesetzgeber und Behörden, Einsicht in Algorithmen oder Programmiercodes zu fordern: Was klingt wie ein Paradies für Internetkonzerne, ist ein Schreckensszenario für Nut­ze­r:in­nen und die Demokratie. Und, so befürchten es NGOs, ein gar nicht mal so unrealistisches.

Denn während auf EU-Ebene in diesen Wochen mehrere Gremien strengere Regeln für die Regulierung von Onlineplattformen verabschieden, verhandeln Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation (WTO) eine Vereinbarung, die ähnlich weitreichenden Auswirkungen haben könnte: ein Handelsabkommen zum E-Commerce, also zum Kauf und Verkauf von Waren und Dienstleistungen im Internet.

Seit 2019 verhandeln WTO-Mitgliedstaaten über das Abkommen, zuletzt sorgte die Pandemie für einige Verzögerungen. So sollte das Thema auf der eigentlich für Ende November 2021 geplanten WTO-Konferenz vorangebracht werden – und ist jetzt mit dieser ins aktuelle Jahr verschoben. Doch auch ohne die große Konferenz sind die Verhandlungen bereits weit gediehen. Und erste geleakte Papiere und verschiedene Äußerungen veranlassen Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften zur Sorge.

Bei dem, was man über das geplante Abkommen weiß, steht ein Entwurf vom September im Zentrum. Geleakt hat ihn eine niederländische NGO. Offizielle Verhandlungsstände oder Positionen haben weder die WTO noch die verhandelnden Staaten bislang veröffentlicht. Das 90seitige Papier liest sich in weiten Teilen wie ein Wunschzettel der Konzerne – und mutmaßlich auch einiger Regierungen – nach niedrigeren Standards, als sie zumindest in der EU derzeit gelten.

Absehbarer Paradigmenwechsel

Ein Beispiel ist der Umgang mit den Quellcodes und den Algorithmen. Eigentlich geht die Tendenz auf EU-Ebene, die ein Verhandlungsmandat für das E-Commerce-Abkommen hat, dahin, mehr Offenheit von den Konzernen zu fordern. Die aktuellen Pläne zur Plattformregulierung etwa, die in diesen Wochen in EU-Gremien debattiert und verabschiedet werden, sehen mehr Transparenzpflichten vor. Auch im Kontext von künstlicher Intelligenz will die EU-Kommission mehr Durchsichtigkeit. Grundsätzlich lässt sich nur mit Einblick in Algorithmen und Codes zumindest ansatzweise nachvollziehen, ob Software so funktioniert wie vorgegeben, ob sie etwa diskriminiert oder manipuliert.

Doch in dem geleakten Papier ist der Ton ein anderer. So heißt es: „Kein Mitglied und keine Vertragspartei (WTO-Mitglieder oder Vertragsparteien des Abkommens, Anm. d. Red.) soll die Übermittlung oder den Zugang zu Quellcodes verlangen dürfen, der sich im Besitz eines anderen Mitglieds oder einer anderen Vertragspartei befindet, als Bedingung für den Import, die Verbreitung oder die Nutzung von Software (…).“

Öffentliches Interesse

In einer gemeinsamen Stellungnahme kritisieren der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Entwicklungsorganisation Brot für die Welt diesen Ansatz. Regulierungsbehörden müssten weiterhin die Möglichkeit haben, Einblick zu erhalten. Mitunter sei die Offenlegung von Quellcodes oder Algorithmen auch geboten – weil in öffentlichem Interesse.

Das Bundeswirtschaftsministerium teilt auf Anfrage mit, dass der Verhandlungstext „bis zum Sommer 2021 weitgehend finalisiert“ wurde. Das betreffe die Bereiche elektronische Signatur, Spam, Verbraucherschutz, Open Government, elektronische Verträge und Transparenz. Noch in den Verhandlungen befänden sich die Bereiche grenzüberschreitende Datenflüsse und Datenlokalisierung, Datenschutz, verpflichtende Offenlegung von Algorithmen, Haftung von Internetplattformen und Netzneutralität – also auch die Themen, in denen die Verbände dringenden Nachbesserungsbedarf sehen. Laut einem Ministeriumssprecher erwartet man eine Einigung erst am Ende der Verhandlungen.

Mehr Datenkonzentration, mehr Profit

Den beiden Organisationen macht noch etwas Sorge: die globalen Auswirkungen eines Abkommens mit derart industriefreundlichen Regeln. „Das Handelsabkommen würde die gegenwärtige Konzentration von Daten und Profit in der Hand einiger Digitalkonzerne völkerrechtlich festschreiben“, sagt Sven Hilbig, Referent für Handelspolitik und Digitalisierung bei Brot für die Welt. Schon jetzt sei das weltweite Ungleichgewicht bei der Plattformökonomie groß. Sieben IT-Konzerne aus den USA und China hielten über 70 Prozent der Marktanteile. Die rund 90 Staaten Afrikas sowie Mittel- und Südamerikas dagegen nur 1,5 Prozent. Er sorgt sich, dass ein Abkommen in der geplanten Form die Regulierungskompetenzen von Staaten einschränkt – und auch der EU.

„Wir befürchten Schlimmstes für die Rechte von Beschäftigten und für die Datensouveränität, wenn das WTO-Abkommen in dieser Form kommt“, sagt Stefan Körzell, DGB-Vorstandsmitglied. Unter anderem sei es möglich, dass das Abkommen die Bedingungen für Beschäftigte verschlechtert – zum Beispiel wenn es um den Einsatz von Algorithmen bei der Entscheidungsfindung geht, etwa in Bewerbungsprozessen. „Wenn Arbeitgeber beispielsweise mit digitalen Methoden Arbeitsprozesse lenken und überwachen, müssen Betriebsräte oder auch Beschäftigte in der Lage sein, Einsicht in diese Software zu nehmen, um Diskriminierungen auszuschließen. „Big Tech möchte größtmögliche Freiheiten bei kleinstmöglicher Verantwortung.“

Dabei ist Körzell nicht grundsätzlich gegen ein Abkommen auf WTO-Ebene. Es dürfe allerdings nicht dazu dienen, „digitale Wildwest-Methoden weltweit zu etablieren“, sondern müsse stattdessen so gestaltet sein, dass Digitalisierung zu nachhaltigem Wohlstand führe. Als einen der Kernpunkte sieht er digitale Souveränität – dass also Staaten in der Lage sind, für sie zentrale Dienste und digitale Infrastrukturen eigenständig aufzubauen und zu betreiben.

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