FC St. Pauli überrascht im DFB-Pokal: Lektion in Sachen Leistungskultur

Der FC St. Pauli wirft den Titelverteidiger Borussia Dortmund mit 2:1 aus dem DFB-Pokal. Damit unterstreicht er seine Aufstiegsambitionen.

Dortmunds Torwart Gregor Kobel greift ins Leere, St. Paulis Etienne Amenyido bugsiert den Ball ins Tor

Volltreffer beim Startelfdebüt: St. Paulis Etienne Amenyido Foto: Christian Charisius/dpa

HAMBURG taz | Leidet die Mannschaft von Borussia Dortmund an einer Charakterschwäche? Ihrem Trainer Marco Rose jedenfalls war das Leiden nach dem Pokal-Aus beim FC St. Pauli anzusehen. Der Titelverteidiger raus im Achtelfinale, gegen einen Zweitligisten, nachdem die Bayern bereits ausgeschieden waren. Der kürzeste Weg zu einem Titel in dieser Saison – perdu.

Nun kommen sie wieder, diese nagenden Fragen wie: Fehlen der Mannschaft „Typen“, die sie mitreißen, wenn es mal ungemütlich wird? Rose versucht solche Fragen zu umschiffen, nur um sie schließlich doch implizit zu bejahen: „Ich möchte, dass wir die Abstände, in denen wir dieses Klischee bedienen, größer werden lassen“, sagt er gequält, „aber wir sind da zu inkonstant.“ Und dann kommt ein Satz, der für ein professionelles Fußballunternehmen nahe am Offenbarungseid ist: „Wir wollen eine Leistungskultur entwickeln, wo wir nie zufrieden sind.“ An diesem Abend klingt das, als sei seine Mannschaft einfach zu satt.

Anfangs sah es tatsächlich so aus, als hätten die Dortmunder das Weiterkommen im Pokal im Vorbeigehen mitnehmen wollen. Eine Viertelstunde sei man in den „Fight oder auch Nicht-Fight“ nicht reingekommen, so Rose. „Das kann man dann hintenraus nicht immer reparieren unter diesen schwierigen Bedingungen.“ Die fasste Rose denkbar knapp zusammen: „Platz, guter Gegner.“

Vor allem mit der zweiten Hälfte hatte Rose einen wichtigen Grund für das Ausscheiden seines Teams benannt. Denn natürlich macht der tiefe, „seifige“ Rasen, der im Millerntor-Stadion regelmäßig von einer Horde Maulwürfe umgepflügt wird, es einem technisch beschlagenen Team wie Dortmund schwer, sein oft verwirrend schnelles Kurzpassspiel aufzuziehen. Aber dass St. Pauli über weite Strecken technisch annähernd ebenbürtig war, war die eigentliche Überraschung des Abends.

Taktisch enorm variabler Fußball

Und irgendwie auch nicht. Denn Trainer Timo Schultz hat in den vergangenen zwei Jahren ein kompaktes Team geformt, das nicht zufällig an der Spitze der Zweiten Liga steht und zu den Aufstiegsfavoriten zählt. Da ist es nicht mit klassischen St.-Pauli-Tugenden wie berserkerhaftem Körpereinsatz hingekommen, sondern mit technisch starkem und taktisch enorm variablem Fußball.

Wenn sein kreativer Kopf Daniel-Kofi Kyereh mit Ghana beim Afrika-Cup spielt, hat Schultz zwei starke Alternativen – und überrascht Dortmund mit einer dritten Variante. Aber auch ohne Not leistet Schultz es sich, aus einem ausgeglichenen Kader viel zu rotieren. Die Leistungskultur, die Rose für Dortmund als eher mittelfristiges Ziel ausgegeben hat, ist bei St. Pauli längst Realität.

St.-Pauli-Trainer Timo Schultz über den Sieg gegen den Titelverteidiger

„Ich würde die Derby-Siege höher hängen“

Natürlich ist auch etwas Glück dabei, wenn Etienne Amenyido, gefühlt St. Paulis Stürmer Nummer fünf, bei seinem Startelf-Debüt nach vier Minuten einen Flankenball einfach ins Dortmunder Tor rennt. Und noch ein bisschen mehr, wenn dieser Amenyido später im Abseits lauert, aber Dortmunds Axel Witsel den Ball vor ihm ins eigene Tor drückt. Witsel – eigentlich einer jener „Typen“, die eine Mannschaft mitreißen können.

Kein Glück ist es, wenn St. Pauli die Führung so konzentriert verteidigt, dass Dortmund praktisch nichts einfällt. Wenn Europas meistgejagter Stürmer Erling Haaland blass bleibt und einen diskutablen Handelfmeter nach Videobeweis braucht, um das einzige Dortmunder Tor zu erzielen.

„Ein sehr breites Grinsen“ hat Schultz nachher bei seinen Spielern gesehen „und bei mir auch“. Er erinnert an St. Paulis bescheidene Pokalbilanz: „Es ist ja nicht normal, dass wir die erste Runde überstehen – und jetzt stehen wir im Viertelfinale!“

Auch wenn Schultz behauptet, „ich interessiere mich nicht für die Zahlen und die Kohle“ – für den Club kommt der Pokalerfolg zur rechten Zeit. Der FC St. Pauli hat im ersten Coronajahr die Hälfte seines Eigenkapitals aufgebraucht, jetzt reißen die Quasi-Geisterspiele neue Löcher ins Budget. Da ist die zu erwartende Millioneneinnahme aus dem Viertelfinale mehr als ein Trostpflaster.

Das lautstarke Häuflein von 2.000 zugelassenen Fans geht nach dem Abpfiff umstandslos zur Tagesordnung über. Ein Banner mit dem Text „Stadtmeister bleiben wir!“, dazu Rufe: „Auswärtssieg, Auswärtssieg“. Denn am Freitag geht es in der Liga beim HSV um das, was wirklich wichtig ist im Fußball. Auch für Trainer Schultz. Den gerade errungenen Erfolg ordnet er so ein: „Ich würde die Derby-Siege höher hängen.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.