Studie zu Gewalt gegen Geflüchtete: Zwei Vorfälle pro Tag

Flüchtlingsfeindliche Taten in Deutschland werden kaum mehr wahrgenommen. Wohl auch, weil die Behörden die Fälle mangelhaft dokumentieren.

Ausgebrannte Fassade eines Containerheims

Brandanschlag auf Flüchtlings-Containerheim in Berlin-Buch 2016 Foto: Christian Mang

BERLIN afp | Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl und die Amadeu Antonio Stiftung haben eine mangelhafte Erfassung und Dokumentation von Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland kritisiert. Bis heute komme es bundesweit zu durchschnittlich zwei flüchtlingsfeindlichen Vorfällen täglich, erklärten die Organisationen am Donnerstag unter Berufung auf eine Langzeitauswertung der Stiftung mit dem Titel „Leben in Gefahr – Gewalt gegen Geflüchtete in Deutschland“.

Allein für 2020 werden darin mehr als 1.600 Angriffe gegen Geflüchtete registriert. Seit 2015 hat die Amadeu Antonio Stiftung in einer gemeinsamen Chronik mit Pro Asyl mehr als 11.000 flüchtlingsfeindliche Vorfälle registriert, davon 284 Brandanschläge und 1981 Körperverletzungen.

In offiziellen Statistiken würden diese Angriffe jedoch bagatellisiert, kritisierten die beiden Organisationen. Zwar hätten bis 2018 spektakuläre Fälle in Freital, Dresden, Tröglitz, Chemnitz und weiteren Orten für Schlagzeilen gesorgt, seither sei die Aufmerksamkeit für die weiterhin anhaltende flüchtlingsfeindliche Gewalt aber abgeebbt.

Die Amadeu Antonio Stiftung und Pro Asyl warfen den Behörden vor, solche Taten nur ungenügend zu erfassen. Sie forderten die Innenministerien von Bund und Ländern zu einer vollständigen und transparenten Zählung sowie der zeitnahen Veröffentlichung der Fälle auf. Bisher sei dies selbst in krassen Fällen, wo etwa Geflüchtete mit Baseballschlägern verprügelt oder Kinder auf dem Weg in die Schule geschlagen würden, häufig nicht oder erst mit langer Verzögerung erfasst.

„Versagen des Rechtsstaats“

„Es kann nicht sein, dass wir zwar wissen, wie viele Handtaschen 2020 gestohlen werden, aber schwere Körperverletzungen, Anfeindungen und Mordversuche gegen Geflüchtete in der offiziellen Statistik nicht auftauchen“, erklärten die Organisationen. Es fehle bei der Polizei an Sensibilität, Aufmerksamkeit und Ressourcen, diese Straftaten zu verfolgen.

„Gewalt gegen Geflüchtete bleibt ein massives Problem, das spätestens seit 2018 schlagartig aus Debatten und Schlagzeilen verschwunden ist“, erklärte die Rassismus-Expertin Tahera Ameer von der Amadeu Antonio Stiftung. „Nur, weil darüber niemand mehr spricht, hat sich die Situation der Betroffenen nicht gebessert“, mahnte sie weiter. „Nach wie vor werden Unterkünfte angezündet und Menschen werden mehrmals täglich Opfer von Gewalt.“

Die Amadeu Antonio Stiftung sprach deswegen von einem „Versagen des Rechtsstaats“. Wer Gewalt durch massive Untererfassung unsichtbar mache, der „macht auch die Menschen unsichtbar“. Es entstehe der Eindruck, man wolle eine Dokumentation flüchtlingsfeindlicher Straftaten verhindern.

„Wir fühlen uns allein gelassen. Ich kenne keinen, der nicht auch ein Lied davon singen kann, wie es sich anfühlt immer auf der Hut zu sein, ganz egal ob beim Einkaufen oder beim Spazieren gehen“, berichtete die Mitautorin der Dokumentation Naya Fahd, die selbst seit 2016 in Deutschland lebt. „Fast jeder, den ich kenne, wurde schon einmal beschimpft, bedroht oder geschlagen“, erklärte sie weiter.

Von einer damit verbundenen erheblichen psychischen Belastung für Geflüchtete sprach der geschäftsführende Leiter des Bundesverbands psychosozialer Zentren für Überlebende von Folter, Krieg und Flucht, Lukas Welz.

Ein generelles Bleiberecht für Opfer rassistischer Gewalt forderte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt. „Rassistische Gewalt muss geahndet werden, und damit Tä­te­r*in­nen vor Gericht verurteilt werden, müssen die Betroffenen in Deutschland sein, sonst können sie nicht aussagen“, begründete er dies.

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