Memorial-Mitbegründerin über Russland: „Wie schnell die Angst zurückkehrt“

Russland will die wichtigste Menschenrechtsorganisation des Landes, Memorial, verbieten. Ein Gespräch mit einer Mitbegründerin.

Ausstellungsstück:Ein Fenster mit Gitterstäben erinnert an ein Gefängnis, daneber Koffer und eine Nähmaschine

Staat als Gefängnis? Ausstellungsstücke in Museum der Menschenrechtsgruppe Memorial in Moskau Foto: Evgenia Novozhenina/reuters

taz: Frau Schtscherbakowa, was erwarten Sie von den Prozessen gegen Memorial?

Irina Schtscherbakowa: Ich bin nicht optimistisch. Ich hoffe jedoch, dass es für unsere Unterstützer eine Verschnaufpause gibt. Mit einem Sieg der Vernunft rechne ich nicht mehr.

Richtet sich das Verbot auch gegen Deutschland?

Zwei Prozesse finden gegen Memorial statt, die als Organisationen liquidiert werden sollen: gegen das Menschenrechtszentrum und gegen das Netzwerk Memorial International. Das betrifft nicht nur Deutschland, auch Frankreich, Tschechien und andere Länder. Es ist eine breitere Maßnahme, in der Deutschland eine besondere Rolle zukommt. Allein schon wegen der engen Zusammenarbeit mit der Böll-Stiftung.

72, ist russische Historikerin und war 1987 in der Sowjetunion eine Mitgründerin der Menschenrechtsinitiative Memorial.

Ist Russland autoritär oder schon ein totalitäres System?

Ich bin nicht überzeugt, dass wir bereits im Totalitarismus angekommen sind, wie es etwa Lew Gudkow vom Lewada-Institut annimmt. In einer Diktatur tauchen immer wieder verschiedene Elemente auf. Machtausübung basiert auf Gewalt. Wir befinden uns in einer hybriden Situation mit unterschiedlichen Elementen aus den 1930er Jahren und aus den Systemen Lateinamerikas. Gleichzeitig bestehen Ausreisemöglichkeiten weiter, auch wenn es nicht mehr viele gibt. Auch soziale Netzwerke und Massenmedien stehen uns noch zur Verfügung. Wir können noch miteinander kommunizieren. Es herrscht eine absolute Machtvertikale, die sich um eine Figur dreht. Alle anderen sind einfach unsichtbar. Früher gab es das kommunistische Politbüro, davon kannte man zumindest Fotos und Bilder. Auf der Straße wird heute kaum jemand einen der jetzigen Akteure erkennen. Das ist ihnen auch bewusst.

In den letzten zehn Jahren ist ein riesiger Gewaltapparat entstanden …

Der fußt aber nicht auf irgendeiner theoretischen Grund­lage, selbst was den Entwurf der Zukunft angeht. Neues wird nicht entworfen. Alles dreht sich um die Vergangenheit, nur ohne Kontrolle einer Partei. Es geht nicht um einen neuen Menschen, einen „reinrassigen“, oder eine glückliche kommunistische Zukunft.

Memorial ist also ein permanenter Angriff auf das offizielle Geschichtsbild, auf die Wahrnehmung der Historie durch den ewigen Tschekisten (Geheimdienstler)?

Ja, sie sind in der Vergangenheit gefangen.

Existiert in diesem Zirkeln noch der Traum einer gleichgeschalteten Gesellschaft?

Vorstellungen über Gesellschaft sind eher reduziert. Worauf sollte sich das auch gründen? Natürlich scheint Populismus immer durch, auch kleine Bestechungsgeschichten kommen an den Tag. Bislang sehen wir nur Elemente einer unfreien Gesellschaft: Konservatismus, Beschwörung der Vergangenheit und Traditionalismus gehören dazu. Die orthodoxe Kirche reiht sich ein. Sie ist auf Vergangenheit fixiert. Auch der Begriff des „ausländischen Agenten“ stammt aus den 1930er Jahren. Es ist eine ziemliche Giftmischung. Ohne eine feste Ideologie, denn es ist dem Führungszirkel egal, was andere Staaten über sie denken. Nicht einmal der Schein wird aufrechterhalten. Wir haben es mit einem Gegner zu tun, dessen Ziel klar ist, der lediglich regelmäßig die Masken und die Farbe wechselt. Das sichert die Fortexistenz. Mal tritt die Kirche auf, mal Stalin, dann wieder Stalin als Hüter der Kirche. Völlig unhistorisch.

Ein Sammelsurium?

Genau, ich erinnere mich an eine Karikatur bei RIA Nowosti: Ein US-Panzer rollt an, und auf einem Rohr steht „Memorial“. Das ist eine ungewollte Parodie aus dem Kalten Krieg. Daher ist es auch schwer, eine tragfähige Totalitarismustheorie zu entwickeln.

Herrscht in der russischen Führung noch der Glaube an die historische Überlegenheit der UdSSR?

Mit irgendwelchen Mythen leben sie womöglich. Ich denke, es ist eher der gekränkte Nationalstolz, der sie anpeitscht, das ständige Gefühl, man beleidigt uns und unterschätzt uns, man erkennt unseren Sieg im Zweiten Weltkrieg nicht an. Ist das nicht absurd? Wer stellt das schon infrage? Braucht man Gesetze dafür? Der „ausländische Agent“ bedeutet automatisch Spion. Demnach ist Russland wieder eine Festung, alle sind gegen uns.

Ist das nicht Déjà-vu?

Auffallend – und erschreckend für Historiker – ist, wie schnell Angst wieder zurückkehrt: Ängste, etwa zu unterschreiben, Hypotheken nicht abzahlen zu können, etwas zu laut zu sagen, seine Stelle zu verlieren. Klar war der Widerstand in den 30er schwächer als in den letzten Jahren. Atomisierung und Gleichgültigkeit breiten sich heute aus. Repressalien und Denunziation sind Begleiterscheinungen einer Diktatur.

Bewegt sich Russland in einer historischen „Pfadabhängigkeit“, der es nicht entkommt und der es auf Gedeih und Verderb folgen muss?

Das wäre eine Vereinfachung. Daran möchte ich nicht glauben. Wir haben jahrzehntelang in Unfreiheit gelebt. Ob unsere Generation den Wandel noch erlebt? Eine Befreiung wird kostspieliger als in den 1980er Jahren. Wir haben es wie in den 1930ern mit Demokratiedefiziten zu tun: Viele wenden sich weltweit von der Demokratie ab. Und auch unsere Gesellschaft empört sich kaum über grassierende Gewalt und Folter.

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