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Dauerdemo gegen Abschiebung

Genitalverstümmelungen, Zwangsheiraten, Morde unter den Augen der Polizei: Es gibt viele Gründe, warum Menschen aus Sierra Leone fliehen. Doch Asyl wird ihnen in Deutschland nur selten gewährt. In Bayern fürchten nun Hunderte der abgelehnten Flüchtlinge eine baldige Abschiebung – und gehen auf die Straße

Aus München Dominik Baur

München. Königsplatz. Direkt auf der Verkehrsinsel vor den Propyläen stehen ein paar Zeltpavillons. Protestcamp nennen sie es. Ein paar Dutzend Flüchtlinge aus Sierra Leone wollen auf ihr Schicksal aufmerksam machen. Viele verbringen sogar die Nächte hier. Vor drei Wochen – da befand sich das Camp noch im Stadtteil Sendling vor der Zentralen Ausländerbehörde – dort sollen sogar bis zu 200 Menschen ausgeharrt haben. „Give us freedom“ steht auf einem Transparent und „Please help us“. Über Lautsprecher rufen sie: „Stop! Stop! Stop!“ Gemeint sind Abschiebungen. Die Lage ist zentral, doch die Aufmerksamkeit gering. Die Autos fahren um die Insel herum, Passanten kommen hier kaum rüber. Die Kälte ist durchdringend.

Nicht, dass derzeit sonderlich viele Menschen aus Sierra Leone in das westafrikanische Land abgeschoben würden. In den letzten fünf Jahren wurden nach Angaben des Landesamts für Asyl und Rückführungen insgesamt 118 Sierra Leoner aus Bayern abgeschoben, darunter 15 nach Sierra Leone. Doch die Befürchtung, dass die Zahl sehr schnell in die Höhe schießen könnte, ist gerade groß. Denn 524 der 936 abgelehnten Asylbewerber aus Sierra Leone in Bayern haben vor wenigen Wochen ein Schreiben bekommen, in dem sie aufgefordert wurden, sich in der zweiten Oktoberhälfte zu einer Anhörung in der Ausländerbehörde einzufinden.

Die Briefe kamen von unterschiedlichen Adressen, etwa einer Bezirksregierung, einem Landratsamt oder einer Stadt, und unterschieden sich auch inhaltlich. Mal war von einem „Vorsprachetermin zur Feststellung der Staatsangehörigkeit durch Vertreter des Immigration Office und der Botschaft von Sierra Leone“ die Rede, mal hieß es, eine Frau habe mit ihren Kindern zu einer „Anhörungssondermaßnahme“ zu erscheinen, „um dort die Ausstellung eines Dokumentes zu beantragen, welches Sie zur Rückkehr in Ihr Heimatland berechtigt“. So intransparent die Aktion war, so klar war die Botschaft in den Augen der Flüchtlinge. Sie lautete: Abschiebung.

Abschiebung in ein Land, aus dem die meisten von ihnen unter Lebensgefahr geflohen waren. Viele von ihnen leben inzwischen gut integriert in Bayern, meist in München oder Niederbayern, arbeiten hier oder machen eine Ausbildung. „In Sierra Leone“, heißt es in einer Pressemitteilung des Camps, „gibt es keine Zukunft für uns, dort gibt es keine gute medizinische Versorgung, die Bildung ist schlecht. Die Menschen hier sind junge Leute, sie wollen lernen, sie wollen arbeiten. Lasst sie etwas zu der Gesellschaft hier beitragen.“

Sierra Leone gehört zu den ärmsten Ländern der Welt – trotz seines Diamantenreichtums, von dem nur eine kleine korrupte Elite profitiert. Nun sind Armut, schlechte medizinische Versorgung und ein miserables Schulsystem nach deutschem Recht keine Asylgründe. Und der Bürgerkrieg in Sierra Leone liegt fast 20 Jahre zurück. „Die politische Lage in Sierra Leone“, schreibt das Auswärtige Amt auf seiner Homepage, „ist relativ stabil. Demonstrationen kommen gelegentlich vor und können zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und Verkehrsbehinderungen führen.“

Fatmata Sesay und Hawa Cramm würden das Leben in Sierra Leone aber nicht so harmlos beschreiben. Die beiden Frauen haben im Café der Glyptothek gleich neben dem Königsplatz Zuflucht vor der Kälte gesucht. Ein wunderschönes Land sei Sierra Leone, erzählt die 25-jährige Sesay, die vor über sieben Jahren nach Deutschland kam, schöne Strände, gute Küche. Nur: „Man ist seines Lebens nicht sicher.“ Und dann erzählt sie die Geschichte eines Volkes, das von einer skrupellosen Elite ausgebeutet wird, in dem ein Menschenleben nichts zählt. Von kleinen Jungen, die 5.000 Leones dafür bekämen, jemanden zu töten. Verbrechen, für die sich die Polizei nicht interessiere. 5.000 Leones seien umgerechnet „2,50 Euro“.

Und Frauen hätten in Sierra Leone ohnehin keine Stimme. Junge Töchter würden mit alten Männern zwangsverheiratet. Nicht selten würden elf- oder zwölfjährige Mädchen geschwängert. Und was man hier häusliche Gewalt nenne, sei in Sierra Leone der Alltag der Frauen. Die meisten Frauen würden zudem Opfer von Genitalverstümmelungen. Eine Aussage, die sich mit Zahlen der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes von 2014 deckt. Danach werden 86 Prozent der Sierra Leonerinnen im Namen von Tradition und Aberglauben „beschnitten“.

Fatmata Sesay selbst wuchs in Sierra Leones Hauptstadt Freetown auf. Ihre Großmutter war Sowei, Beschneiderin, zuständig für die Genitalverstümmelung der Mädchen in ihrer Gemeinschaft. Als sie starb, erzählt Sesay, hätte sie an ihre Stelle rücken und dafür erst einmal selbst beschnitten werden sollen. Sesay, damals 17, entschied sich, ihre Flucht mit dem Schiff zu organisieren. Mit einer anderen Frau kam sie in eine dunkle Kammer. Es gab Brot, sonst nichts. „17 Tage blieben wir da drin. Und als sie mich rausgelassen haben, war ich in Hamburg“, erzählt Sesay.

Über eine Zwischenstation in Berlin landete sie schließlich in München, lernte lesen und schreiben, machte einen Deutschkurs und ein Praktikum im Krankenhaus. Demnächst will sie ihren Mittelschulabschluss machen. Kontakt zu ihrer Familie hat sie nicht mehr. „Ich weiß nicht mal, ob sie noch leben.“

Neben Fatmata Sesay sitzt Hawa Cramm. Sie ist bereits seit 1996 in Deutschland, seit dem Jahr, in dem Sesay geboren wurde. Beider Asylantrag wurde anerkannt, doch damit gehören sie zu einer Minderheit. Die Anerkennungsquote von Flüchtlingen aus Sierra Leone in Bayern schwankte in den letzten fünf Jahren zwischen 10 und 17 Prozent. Jetzt solidarisieren sich die beiden Frauen mit den Menschen aus ihrer Heimat, denen die Abschiebung droht. Hawa Cramm greift zu ihrem Handy, ruft Fotos und Videos auf, auf denen Grausamkeiten zu sehen sind, die man nicht sehen will: ein Gefolterter mit klaffenden Wunden; ein Festgenommener, dem ein Polizist immer wieder voller Wucht mit einer Flasche auf den Kopf schlägt; die Enthauptung eines jungen Mannes mit einer Machete. Alle Bilder, so sagt Cramm, stammten aus Sierra Leone. Verifizieren lässt sich Echtheit und Herkunft des Materials freilich nicht.

„Die Menschen wollen lieber hier in der Kälte sterben als in Sierra Leone“

Aktivistin Hawa Cramm

Jedenfalls sind es Bilder und Videos, die die sierra-leonische Botschaft nicht so gern im Umlauf sieht. Ohnehin dürften ihr die demonstrierenden Landsleute ein Dorn im Auge sein. Bei den Anhörungen habe man ihnen Vorwürfe gemacht, erzählen einige, die dort waren. Sie brächten ihr Land in Verruf, habe es geheißen, und nun werde man dafür sorgen, dass sie nach Sierra Leone zurückkämen und dort zur Rechenschaft gezogen würden.

Die Botschaft wiederum behauptete jüngst in einer Pressemitteilung, bei der gemeinsamen „Identifizierungsmission“ mit den deutschen Behörden gehe es nur darum, Betrüger ausfindig zu machen: Es gebe Hinweise darauf, dass 70 Prozent der Flüchtlinge, die sich als Sierra Leoner ausgäben, in Wirklichkeit aus anderen Ländern stammten. Diese Menschen vermittelten ein falsches Bild „unseres geliebten Landes“. So sei letztens ein vermeintlicher Sierra Leoner wegen Drogendelikten vor Gericht gestanden. Von Ausreisepapieren ist in der Mitteilung nicht die Rede.

Das Landesamt für Asyl und Rückführungen indes macht keinen Hehl aus seinen Absichten: Die Identifizierung laufe „letztendlich auf die Ausstellung eines Heimreisedokuments (Pass­ersatzdokuments) hinaus“. Auf taz-Nachfrage, ob dies für die Betroffenen nun eine Abschiebung nach Sierra Leone zur Folge habe, antwortet die Behörde: „Die zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht ist nach Ausstellung eines Heimreisedokuments dabei grundsätzlich möglich.“ Kurz: Mit Abschiebungen ist zu rechnen. Wann? Dazu will das Landesamt sich erwartungsgemäß nicht äußern.

Inzwischen wird die Unterstützung für die Demonstrierenden aus Sierra Leone breiter. „Es ist eine Illusion zu denken, dass man diese Personen alle abschieben könnte“, sagt etwa Katharina Grote vom Bayerischen Flüchtlingsrat. Sie fordert eine Aufnahmeperspektive für die Flüchtlinge. Mehr Arbeitserlaubnisse, ein besseres Angebot von Sprachkursen. Ähnlich sehen es Organisationen wie Black Lives Matter oder der Münchner Migrationsbeirat. Auch aus dem Münchner Stadtrat kommen Solidaritätsbekundungen. Die Fraktionen Die Grünen/Rosa Liste und Die Linke/Die Partei wandten sich jeweils an Oberbürgermeister Dieter Reiter mit dem Appell, sich für die sierra-leonischen Asylbewerber stark zu machen.

Die Menschen im Protestcamp wollen indes weiter am Königsplatz ausharren. Eine größere Demo ist für den 18. Dezember geplant. „Wir machen so lange weiter, bis wir Hilfe bekommen“, sagt Hawa Cramm. „Wenn wir aufhören, werden sie diese Menschen abschieben. Die wollen lieber hier in der Kälte sterben als in Sierra Leone.“

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