piwik no script img

Studie über MittelschichtmilieusDas Märchen vom Abstieg

Barbara Dribbusch
Kommentar von Barbara Dribbusch

Die Ampel-Parteien haben die großen sozialen Fragen bislang umschifft. Doch ohne Zumutungen für die Mittelschicht wird es nicht gehen.

Das Problem ist zunächst: Mittelschicht ist nicht gleich Mittelschicht Foto: Fabian Strauch /dpa

E s ist auffällig, dass im Sondierungspapier der künftigen Ampelkoalition große Fragen der Sozialpolitik umschifft werden: Rente und Pflege. Hier will die künftige Regierung alles eher beim Alten belassen, Pflegenotstand und Renten-Finanzprobleme hin oder her. Bei beiden Themen müsste man unangenehme Verteilungsfragen ansprechen, die vor allem die Mittelschichtmilieus betreffen.

Die Mittelschicht aber möchte beitragsmäßig und steuerlich möglichst entlastet werden. Rente, Pflege, Bildung, Gesundheit: der Staat und die Sozialkassen sollen bitteschön möglichst umsonst liefern. Das kann so natürlich nicht funktionieren.

Das Problem ist zunächst: Mittelschicht ist nicht gleich Mittelschicht. Der neue Verteilungsbericht des gewerkschaftsnahen WSI-Instituts kommt zu dem Schluss, dass die Mittelschichtseinkommen in den Jahren vor Corona im Schnitt gewachsen sind, weil Arbeitskräfte gesucht werden.

Die untere Mittelschicht aber profitiert weniger und litt stark unter Corona. Selbstständige haben teilweise hohe Einkommensverluste erlitten. Hohe Wohnkosten in den Metropolen können zur Verarmung führen, falls man nicht geerbt hat.

Auseinandersetzung mit Verteilungsfragen wird blockiert

In den Mittelschichtmilieus zeigen sich feine Bruchlinien wie in einer Porzellanschüssel mit Sprung. Will man die Solidarsysteme in einer alternden Gesellschaft erhalten, werden aber Zumutungen kommen müssen. Beitragsbemessungsgrenzen und Sozialbeiträge für Gesundheit und Pflege werden steigen, Renten gedämpft werden müssen. Die Erbschaftsteuer sollte erhöht werden. Brauchen Hochverdiener kostenfreie Kitas? Das ärmste Zehntel der Bevölkerung hat übrigens keine Einkommenszuwächse erlebt.

Das Märchen von der absteigenden Mittelschicht blockiert die Auseinandersetzung mit Verteilungsfragen. Auch die kommende rot-grün-gelbe Koalition vertagt. Das geht nicht ewig gut, sondern erhöht nur den Druck. Wer da mal ran muss, ist jetzt schon nicht zu beneiden.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).
Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • Welches Märchen? Ich muss nur auf meine Kontoauszüge schauen...

  • Zumutungen

    Zitat: „ohne Zumutungen für die Mittelschicht wird es nicht gehen.“

    Nach 20 Jahren Agenda-Zumutungen für die Unterschicht robbt sich der soziale Krebsfraß der Zumutungen nun also an die Mittelschicht heran. Aber so schlimm kann es wohl auch wieder nicht sein, wie apodiktisch in der Headline insinuiert, alles Gerede über deren Abstieg sei ohnehin nur ein Schauermärchen.

    Im Laufe des Artikels selber kommt Barbara Dribbusch mit ihrem Verweis „Mittelschicht ist nicht gleich Mittelschicht“ dann allerdings auf ihre gewohnte plausible Differenzierung zurück mit ihrer Forderung, bei der anstehenden Umverteilung vor allem „die höhere Mittelschicht mit ins Boot zu nehmen“ und nicht etwa nur die untere. (Taz, 16.4.21).

    Da aber sind an dem politischen Willen der Grünen erhebliche Zweifel angebracht mit der Vermutung, daß sich aus dieser sozialen Schicht das Gros des grünen Elektorats rekrutiert. Und wer beißt schon in die Hand, die ihn füttert?

    Und was ist eigentlich mit den Zumutungen für die Oberschicht? Da konnte Barbara Dribbusch schon mitten im Wahlkampf Entwarnung geben: „Reiche müssen keine Angst vor Schwarz-Grün haben.“ (Taz 21.5.21) Da fielen allen in der Bel Etage der Gesellschaft ein Stein vom Herzen. Man hatte ja schon das schlimmste befürchtet. Diese gute Nachricht würde auch erklären, warum das deutsche Wirtschaftsestablishment und Finanzpatriziat damals gelassen der möglichen Regierungs-, wenn auch nicht Machtübernahme der Grünen entgegensah und dessen Corporate Media über die Aussicht, die charmante Annalena Baerbock aus dem Nomenklaturkader von Klaus Schwabs „Young Global Leader"-Programm an deren Spitze zu sehen, zeitweise ganz aus dem Häuschen waren.


  • "Das Problem ist zunächst: Mittelschicht ist nicht gleich Mittelschicht. (...) Das Märchen von der absteigenden Mittelschicht..."



    Interessanter logischer Sprung. Zuerst festhalten, dass "die Mittelschicht" so nicht existiert, und dann pauschal ohne nähere Erläuterung die Furcht der Mittelschicht vor dem Abstieg als Märchen abtun.



    Sauber.

  • Vertagen von Problemen ist ja auch eine Entscheidung. Hier hat sich die SPD sehr deutlich durchgesetzt.



    Die FDP hat mit den beiden Worten "keine Steuererhöhungen" deutliche Zeichen gesetzt.

    Nur Die Grünen haben sich in der Sondierungsphase auf wolkige Sprüche (1,5 Grad) eingelassen.

    Es wäre interessant, was nun in den heute abgegebenen Papieren der Arbeitsgruppen steht.

  • Deswegen Modell Klimaschutz: ignorieren bis der Arzt kommt...

  • "Rente, Pflege, Bildung, Gesundheit: der Staat und die Sozialkassen sollen bitteschön möglichst umsonst liefern"

    Ist das wirklich die Mittelstandsposition? Ich für meinen Teil drücke allmonatlich einen guten Teil meines Einkommens dafür ab und halte das Geld für vernünftig angelegt.

    Es mag sein dass ein Teil unserer Gesellschaft all das umsonst haben will und dann noch motzt weil es nicht genug ist, im Mittelstand sind die eher nicht zu finden

  • Immer wieder eine Freude,das Geld anderer auszugeben.