Melisa Erkurt
Nachsitzen
: Wer nicht mittrinkt, ist schwanger oder langweilig

Foto: taz

Ich war in meinem ganzen Leben noch nie betrunken. Ich habe mich noch nie aufgrund von Alkohol übergeben müssen. Ich hatte noch nie einen Filmriss oder einen „Kater“ am Tag danach. Ich habe noch nie unter Alkoholeinfluss dumme Entscheidungen getroffen, am Disco-Klo geweint oder Ex-Partner angerufen. Wenn das andere über mich erfahren, geben sie mir das Gefühl, etwas verpasst zu haben, mein Leben nicht richtig gelebt zu haben. Als wäre ich langweilig, spießig oder konservativ. So als wäre der Spaß, den man ohne Alkohol haben kann, nicht vergleichbar mit dem mit Alkohol. Eine Rechtfertigung für meinen Alkoholverzicht wird selbstverständlich auch erwartet. Warum trinkst du nicht? Liegt es an deinem Glauben? Bist du schwanger?

Wenn in einem beruflichen Kontext angestoßen wurde, habe ich bisher immer so getan, als würde ich mittrinken, ich hatte keine Lust auf intime Rechtfertigungen. Schade um die Liter Alkohol, die meinetwegen unberührt im Glas blieben, aber es scheint bisher niemandem aufgefallen zu sein. Ich will daraus wirklich kein Geheimnis machen, aber selbst wenn ich wollte, ich hätte keine wirkliche Rechtfertigung. Ja, ich bin Muslima und im Islam ist Alkohol verboten. Aber ich bin auch gebürtige Bosnierin, da wird das nicht so streng genommen.

Ich bin einfach nicht mit Alkohol als Genussmittel aufgewachsen. Meine Eltern sind nicht abends mit einem Glas Wein am Balkon gesessen. Ich habe auch überhaupt keine Ahnung, was ein guter Wein ist und welchen man zu welchem Gericht trinkt. Alkohol verbinde ich mit kriegstraumatisierten Onkeln, die ständig eine Fahne haben. Ich wage zu behaupten, dass es zumindest einen solchen alkoholkranken Onkel in den meisten Familien am Balkan gibt, und der Umgang mit Suchtkranken ist in unserem Kulturkreis nach wie vor ein Tabu.

Wobei Alkohol auch in Deutschland und Österreich „Volksdroge Nummer eins“ ist, Familien und Existenzen vernichtet, Tausende Tote bei Verkehrs- und Gewaltdelikten fordert und trotzdem oft als Suchterkrankung unbemerkt bleibt. Gerade wenn Betroffene ihren Alltag erfolgreich bewältigen.

Wie viele das in unserer Kreativbranche betrifft, ist mir erst durch die Bücher der Autor*in­nen Nathalie Stüben („Ohne Alkohol“ ) und Daniel Schreiber („Nüchtern“) klar geworden. Beide berichten über ihre eigene Alkoholsucht und wie sie jahrelang unbemerkt damit leben konnten. Wie die Branche und die Gesellschaft ihre Sucht gar gefördert haben.

Die Fünf­tage­vorschau

Di., 9. 11.

Saskia Hödl

Kinderspiel

Mi., 10. 11.

Lin Hierse

Poetical Correctness

Do., 11. 11.

Mohamed Amjahid

Die Nafrichten

Fr., 12. 11.

Peter Weissenburger

Unisex

Mo., 15. 11.

Anne Dushime

Bei aller Liebe

kolumne@taz.de

Alkohol ist im EU-Schnitt hierzulande vergleichsweise günstig und niedrig besteuert. Viele progressive Werbeagenturen würden zwar niemals Werbung für Tabak machen, aber sehr wohl für Alkohol. Nicht falsch verstehen, das ist natürlich jedem selbst überlassen und ich würde niemals irgendwen für seinen Alkoholkonsum verurteilen. Darüber zu reden, wie normalisiert es immer noch ist, betrunken zu sein, finde ich aber schon wichtig.