Räume neu zusammensetzen

Heinz Emigholz nähert sich der Welt und den Formen des Films wie kein anderer. Sein Film „Die letzte Stadt“ läuft im Kino, das Berliner Haus der Kulturen der Welt widmet ihm eine Werkschau

Annäherungen an die Antike: John Erdman und Young Sun Han in „Die letzte Stadt“ Foto: Filmgalerie 451

Von Ekkehard Knörer

Zwanzig Jahre lang hat Heinz Emigholz an der Berliner Universität der Künste als Professor für „Experimentelle Filmgestaltung“ gelehrt. Anders als manch anderer hat er seine eigene Forschung daneben mit großem Fleiß weiterbetrieben. Diese Forschung ist Praxis des Films, mehr als hundert Filme, kürzere, längere, umfasst heute das Werk. Der Titel der Professur ist wörtlich zu nehmen, auch der der Forschung.

Als Handwerk mit Regeln, die man einfach nur anwenden muss, begreift Emigholz das Filmemachen ganz sicher nicht. Es spaltet sich in einen dokumentarischen Teil und in Formen des Spielfilms. Es spaltet sich aber auch wieder nicht, denn es sind stets ähnliche und ähnlich grundsätzliche Fragen, die den filmenden Forscher über konventionelle Grenzen hinweg umtreiben: vor allem die nach der Gestaltung des filmischen Raums, im Ausschnitt der Kamera (Bildgestaltung: Emigholz selbst), in der Montage (auch diese besorgt Emigholz meist höchstpersönlich).

Bekannt, ja berühmt in einschlägigen Kreisen ist die lange Serie, in der sich Emigholz wieder und wieder der Architektur widmet. „Photographie und jenseits“ ist dieser Teil des Werks überschrieben, das „jenseits“ im Titel markiert das X wie Experiment, also Erprobung eines ungesicherten Neuen. Die Architekturfilme, mehr als dreißig inzwischen, von „Goff in der Wüste“ (2003) über „Schindlers Häuser“ (2007) und „Loos Ornamental“ (2008) bis „Bickels: Socialism“ (2017) und nun, ganz neu, sie erleben in der Retrospektive „Counter Gravity“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt ihre Premiere: „Zwei Häuser von Arno Brandlhuber“ und „WEISS hoch zwei“.

Diese Filme nähern sich der Architektur in stets etwas schrägen, verkanteten Bildern, sie nähern sich Raum, Wand, Durchgang von innen und außen, sie stehen mitten darin oder nehmen ein Gesamt in den Blick, in immer neuen Perspektiven, in unbewegten Einstellungen, mit denen die Räume zum Wohnen und Leben nicht als ein für alle Male bestehend gezeigt, sondern Bild für Bild und als fast kubistische Zusammenschau in der Montage neu zusammengesetzt werden. Anleitung durch Voiceover-Kommentar gibt es nicht, die anderen Mittel des Films sprechen für sich.

Orientierung heißt so immer auch Desorientierung. Filmen heißt forschen, finden von neuen Möglichkeiten, wenngleich das filmische Verfahren von Heinz Emigholz, nicht zuletzt die verlässlichen Schrägen, inzwischen selbst ein eigenes Trademark ist.

Keiner nähert sich der Welt und den Formen des Films wie Heinz Emigholz. Das macht seine Filme dann aber auch immer auf Anhieb als die seinen erkennbar. Nicht nur im „dokumentarischen“ Teil des Werks, sondern auch in den Arbeiten experimenteller Spielfilmgestaltung. Sie nahmen in der Filmografie lange weniger Raum ein, ein frühes Hauptwerk in dieser Richtung war der 1991 nach mehreren Jahren fertig gewordene Film „Der zynische Körper“, eine filmische Dekomposition in Farbe (in den Innenräumen) und Schwarz-Weiß, mit Figuren, die sich äußerlich über Zuordnungen von Tätigkeiten (Liza, die Fotografin, John, der Architekt, Fred, der Zeichner, Carl, der Autor), aber nicht psychologisch von innen erschließen.

Filmen heißt bei Heinz Emigholz forschen, finden von neuen Möglichkeiten

In den letzten Jahren hat Emigholz wieder stärker mit Texten, mit dem Ins-Bild-Setzen von Körpern, mit Annäherungen an Narration experimentiert. Ausgesprochen charmant, sogar komisch war das im Dialogfilm „Streetscapes“ (2017), in dem Emigholz sich, auch seine Biografie, in Dialogen mit dem Trauma-Wissenschaftler Zohar Rubinstein ins Spiel und ins Bild gebracht hat. Mit dem jüngsten Großprojekt „Die letzte Stadt“ (2020), im Kino und ebenfalls in der Retrospektive zu sehen, schließt er in der Dialogform an diesen Vorgänger an.

Gleichberechtigt nebeneinander stehen hier die Körper, die Texte, die Räume und die Montage. Die Schauplätze wechseln, als wäre es ein Bond-Film: von Be’er Scheva im israelischen Süden nach Athen und São Paulo und Hongkong und Berlin. Schon in Schuss und Gegenschuss löst sich oft der Zusammenhang auf: Mit einem Satz ist die Figur in Be’er Scheva verortet, in der Antwort ist dann im Hintergrund die Akropolis sichtbar. Aber auch sonst hält Emigholz von filmischer Continuity wenig: Es wechseln die Kleider, die Frisuren, die Lage im Raum.

Im ersten der Dialoge, in die der Film zerfällt, sind ein Künstler (John Erdman), der nun Archäologe ist, und ein Psychoanalytiker (Jonathan Perel), der sich aufs Waffendesignen verlegt hat, zu sehen, zu hören. In einem weiteren Dialog sieht man wiederum John Erdman, ein Emigholz-Regular seit Jahrzehnten, der nun aber mit „sich selbst“ als jungem Mann (Young Sun Han) ins Gespräch kommt. In weiteren Dialogen kommen weitere Figuren (unter anderem zweimal Susanne Sachsse) und als Themen japanische Kriegsverbrechen, künstliche Intelligenz und die Rolle des Menschen im Weltall ins Spiel. So recht runden will sich das nicht, auch nicht zum Exempel vielfacher Diskontinuität. Das aber ist das Risiko filmischen Forschens: Manches gelingt, anderes nicht.

„Die letzte Stadt“. Regie: Heinz Emigholz. Mit: John Erdman, Jonathan Perel u. a. Deutschland 2020, 100 Min.

„Counter Gravity“. Werkschau, Haus der Kulturen der Welt, Berlin, bis 3. Januar 2022