: „Die Kirche ist ein geschlossenes System“
Die Evangelische Landeskirche Hannover informierte am Montag über einen Fall von schwerer sexualisierter Gewalt. Claudia Chodzinski begleitet Betroffene und erklärt, warum derartige Institutionen bei diesen Straftaten so oft im Fokus stehen
Interview Teresa Wolny
taz: Frau Chodzinski, Sie stehen Menschen mit sexualisierten Gewalterfahrungen zur Seite, darunter auch Lisa Meyer*, die als Kind von einem angehenden evangelischen Diakon vergewaltigt wurde und ihre Geschichte nun öffentlich gemacht hat. Kommen viele Fälle, die Sie betreuen, aus dem kirchlichen Kontext?
Claudia Chodzinski: Ich glaube nicht, dass Missbrauch ein spezielles Problem der Kirche ist. Es ist ein Problem von Institutionen, zu denen auch Schulen, Psychiatrien oder Behinderteneinrichtungen gehören und die in Deutschland oft von der Kirche unterhalten werden. Das alles sind geschlossene Systeme, die oft eigene Gesetze und eine eigene Normalität haben. Das begünstigt Intransparenz, Kumpeleien und Machtspiele. Die Gefahr von Übergriffen und Machtmissbrauch ist an diesen Orten deshalb besonders hoch. Jeder angehende Psychotherapeut in Deutschland muss Selbsterfahrungsseminare belegen, Pastoren müssen das nicht. Solche geschlossenen Systeme führen dazu, dass man viele Dinge nicht sieht, obwohl man sie sehen sollte. Die Kirche spielt beim Thema Missbrauch auch so oft eine Rolle, weil sie ein sehr vulnerabler Bereich ist.
Was bedeutet das?
Das Gefährliche ist, dass Menschen im kirchlichen Kontext oft verwundbar sind – sie kommen, weil sie in Not sind oder Bindung suchen. Wenn man sich Täterstrategien anschaut, ergibt das Sinn: Ein Mensch, der grenzüberschreitend ist, sucht sich genau dieses Feld, in dem es viel Nähe gibt und in dem man gleichzeitig viel Macht ausüben kann.
Die Betroffene, die unter dem Pseudonym Lisa Meyer mit ihrer Geschichte in die Öffentlichkeit gegangen ist, wurde in den 1970er-Jahren von einem angehenden Diakon in der Gemeinde Oesede bei Osnabrück sexuell missbraucht und vergewaltigt. Im Februar 2021 begann sie mit dem Aufarbeitungsprozess.
Die Aufarbeitung geht nur schleppend voran: Bereits 2010 hatte Meyer sich an die Landeskirche gewandt. Die habe damals aber weder den Superintendenten noch den Pastor der Gemeinde informiert. „Ich habe mich wie eine Bittstellerin gefühlt“, sagte sie bei einer Pressekonferenz in Oesede am Montag.
Was müssen Institutionen wie die Kirche tun, um das Thema weiter in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken?
Es muss Räume und Möglichkeiten geben, über solche Themen zu sprechen. Außerdem muss es Menschen geben, die in die Geschichte der Institution gucken und sich damit beschäftigen, welche unbearbeiteten Fälle es noch gibt. Ich kann kein Schutzkonzept erstellen, wenn ich nicht vorher in die Aufarbeitung gehe. Die Kirche muss ihre Türen öffnen und zeigen, dass sie das Thema im Blick hat. Wir müssen in diesem Zusammenhang außerdem dringend über das Seelsorgegeheimnis sprechen.
Das Seelsorgegeheimnis verpflichtet Geistliche zur Verschwiegenheit.
Genau. Im Grunde ist es gut, wenn es Menschen gibt, denen ich etwas anvertrauen kann, was ich sonst niemandem anvertrauen würde. Wenn das aber die Grenzen anderer berührt, muss darüber gesprochen werden. Ich sage meinen Klienten oft, dass ich für solche Geheimnisse nicht zur Verfügung stehe, weil ich die Verantwortung dafür nicht tragen kann. Die Kirche hat eigene Gesetze, die man nicht einmal dann brechen kann, wenn es einen strafrechtlich relevanten Verdacht gibt. Sie bringt damit auch ihre eigenen Mitarbeitenden in schlimme Situationen, wenn zum Beispiel ein Pastor etwas erfährt, was er nicht weitergeben darf. Wir müssen als Gesellschaft darüber sprechen, ob das noch zeitgemäß ist und wann dieses Geheimnis gebrochen werden darf. Das bedeutet natürlich auch eine Abgabe von Macht für die Kirchen.
Was gibt es noch für Ansätze, um sexualisierte Gewalt zu verhindern?
Wir müssen noch viel mehr in Fort- und Weiterbildungen investieren. Dabei geht es nicht nur darum, professionelles Wissen zu vermitteln. Zur Weiterbildung gehören auch Programme, in denen es um ein grenzwahrendes Miteinander geht. Wir müssen nicht nur Kinder oder Jugendliche als mögliche Betroffene stärken, sondern vor allem die berufliche Seite in die Pflicht nehmen.
Sie begleiten Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben. Wie sieht so eine Begleitung aus?
Es ist weniger eine Therapie, sondern hat eher etwas von Zeugenschaft. Zu einer Traumafolgestörung kann auch gehören, dass Menschen ihrer eigenen Wahrnehmung nicht vertrauen. Oft lächeln sie das Geschehene einfach weg oder sind im Anerkennungsverfahren so erschüttert vom Umgang der Institutionen, dass sie deshalb nicht weitermachen wollen. Das ist als Entscheidung völlig in Ordnung. Wenn man den Prozess aber doch durchmachen möchte, ist es leichter, dabei jemanden an seiner Seite zu haben. Ich bestärke die Betroffenen darin, sich selbst zu vertrauen. Allein die Tatsache, dass ich bei Entschädigungsverfahren mit im Email-Verteiler bin, gibt dem Ganzen oft eine andere Dimension.
Claudia Chodzinski 55, ist Traumafachberaterin , Sozio- und Bindungstherapeutin in Hannover und begleitet von sexualisierter Gewalt betroffene Menschen.
Bewegt sich bei der Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt jetzt mehr?
In einzelnen Landeskirchen passiert schon einiges. Allerdings nicht genug und nicht schnell genug, das zeigt auch der aktuelle Fall. Wenn wir über die Evangelische Kirche in Deutschland reden, bekomme ich trotzdem Bauchweh – besonders in den oberen Gremien gibt es viel Bedarf. Da mangelt es an Ressourcen und die Prioritäten werden falsch gesetzt, etwa wenn eine geplante Homepage in der Pressestelle von Menschen betreut wird, die mit dem Thema Missbrauch nicht vertraut sind. Dass die EKD für die Aufarbeitung Studien über sexualisierte Gewalt durchführen will, ist gut. Ich halte es aber für gefährlich, sich hinter diesen Studien zu verstecken.
*Name geändert
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