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Debatte um „Vaterjuden“Verschleppter Konflikt

Vor 30 Jahren legte der deutsche Staat durch Einwanderungsregeln fest, wer jüdisch ist. Heute dreht sich die Debatte um Befindlichkeiten.

Jüdische Emigranten aus der Ukraine vor dem Grenzdurchgangslager Friedland, 1998 Foto: Fabian Matzerath/picture-alliance/dpa

Seit einigen Wochen geistern ein Name und ein Begriff durch die deutschen Feuilletons: Max Czollek und „Vaterjude“. Anfang August hatte Autor Maxim Biller dem Publizisten Max Czollek in einer Zeit-Kolumne abgesprochen, der Halacha nach Jude zu sein. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, besagt nämlich, dass jüdisch ist, wer eine jüdische Mutter hat oder zum Judentum konvertiert ist. Auf Czollek trifft das nicht zu.

Czollek selbst wies die Vorwürfe zurück. Auf Twitter schrieb er, er habe nie öffentlich oder privat behauptet, dass seine Mutter jüdisch sei. Er sprach sich außerdem dafür aus, die Debatte über Pluralität im Judentum weiterzuführen.

In der Jüdischen Allgemeinen schaltete sich kurze Zeit später der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Josef Schuster, mit einem kurzen Gastbeitrag ein. Wenig überraschend war seine Argumentation: Ob man jüdisch sei oder nicht, richte sich nach den Regeln der Religion. Czollek mag sich dem Judentum nahe fühlen, ein echter Jude werde er dadurch trotzdem nicht. So Schusters Urteil.

Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, widersprach daraufhin auf Zeit Online. Er forderte Pluralismus und die Anerkennung „hybrider Identitäten“. Später äußerten sich Autorin Mirna Funk in der FAZ, Tuvia Tenenbom im Spiegel sowie Sasha Marianna Salzmann ebenfalls in der FAZ.

Konservative und orthodoxe Stimmen fordern in der Debatte, sich an religiöse Regeln zu halten. Progressive Stimmen wünschen sich die Inklusion von sogenannten Vaterjuden, also solchen Menschen, deren Vater jüdisch ist.

Zudem sehen Un­ter­stüt­ze­r:in­nen von Czollek in der Fixierung auf seine Person einen Vorwand, „um einen engagierten Befürworter einer pluralistischen Gesellschaft zu diskreditieren“, wie es in einer aktuellen Stellungnahme zahlreicher Personen aus der Kultur- und Journalismusbranche heißt. Sasha Marianna Salzmann sieht in Czollek gar das Mitglied einer Minderheit, das „weniger Sprechzeit“ in dieser Gesellschaft habe und betrachtet gleichzeitig Czolleks jüdische Kri­ti­ke­r:in­nen als solche, die ihm „die viele Redezeit“ neideten. Dass sich beide Punkte widersprechen, geschenkt.

Einwanderung aus der Sowjetunion

Wer sich in den vergangenen 30 Jahren mit der Geschichte der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden befasst hat, wird der derzeitigen Auseinandersetzung etwas überdrüssig sein. Was hier anklingt, ähnelt einer Diskussion, die in den 1990er Jahren in Deutschland fernab der deutschen Öffentlichkeit geführt wurde. Heute zeigt sich: Wirklich weitergekommen scheint in der Diskussion niemand zu sein.

Als ab Beginn der 1990er Jahre über 200.000 Jüdinnen und Juden und ihre Familien aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland einwanderten, wurde schon einmal die Frage verhandelt, wer jüdisch genug war. Die Antwort darauf entschied darüber, wer einreisen durfte und wer nicht.

Deutsche Po­li­ti­ke­r:in­nen und jüdische Funktionäre, wie der damalige Zentralratsvorsitzende Heinz Galinski, brachten gemeinsam die Einwanderung postsowjetischer Jüdinnen und Juden auf den Weg. Für sie schaffte man einen juristischen Rahmen: Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion konnten als sogenannte „Kontingentflüchtlinge“ einreisen.

Blühendes jüdisches Leben

Vonseiten der jüdischen Institutionen setzte man Hoffnung in die Ankömmlinge. In ihnen sah man die Chance, die überalterten Gemeinden wieder aufblühen zu lassen. Denn 1990 betrug die Mitgliederzahl gerade einmal 29.089. Nach dem Zuzug waren es bald schon wieder knapp über 100.000 Mitglieder.

Um nur wenige Jahrzehnte nach der Shoa und den Nürnberger Gesetzen die unangenehme Situation zu vermeiden, als deutscher Staat Stammbäume jüdischer Menschen zu durchforsten, griff man auf die sowjetische, schon vorhandene Definition zurück. Dort bestand die Vorstellung einer jüdischen Nationalität, die nazionalnost, die wie andere politische Ethnien, Russe, Ukrainer oder Tatare, im sowjetischen Pass unter Punkt fünf vermerkt wurde. Im Gegensatz zu den Gesetzen der Halacha übertrug sich diese Nationalität über den Vater. In der Sowjetunion waren vaterjüdische Identitäten also gelebte Realität.

Postsowjetische Jüdinnen und Juden und ihre Familienmitglieder konnten unter diesen Gesichtspunkten in den 1990er Jahren also rechtmäßig nach Deutschland einwandern. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass sich Deutschland bis heute damit schmücken kann, wieder zu einem „blühenden jüdischen Leben“ gefunden zu haben. Sie stärkten die Positionen des Zentralrats und belebten die Gemeinden, die vom Aussterben bedroht waren.

Ausschluss aus der Gemeinde

In den meisten orthodoxen Gemeinden fanden diese Menschen nach ihrer Ankunft in Deutschland allerdings keinen Platz. Über die Hälfte der postsowjetischen Jüdinnen und Juden ist heute kein Mitglied in einer Gemeinde – weil ihnen als Vaterjuden der Weg verwehrt blieb oder sie schlicht kein Interesse hatten. Für die Einreise jüdisch genug, für die Gemeinde aber nicht.

Was sich in den 90er Jahren beobachten ließ, war ein Zusammenprall zweier unterschiedlicher Verständnisse von Jüdischkeit: Orthodox-religiöse Identitätsvorstellungen stießen auf säkulare postsowjetische Jüdinnen und Juden. Dass diese säkularen Juden weitestgehend assimiliert in ihren Herkunftsländern gelebt hatten und wenig Wissen in Bezug auf religiöse Rituale mitbrachten, wurde in Deutschland als Defizit gewertet. Bis heute hält sich diese Ansicht.

Wo man damals die Einwanderung damit begründete, bedrohte Juden aufzunehmen, steht seit 2005 explizit die weitere Existenz der jüdischen Gemeinden im Zentrum. In jenem Jahr erfolgte die Reform des Einwanderungsverfahrens für jüdische Zuwander:innen. Dafür starkgemacht hatte sich der Zentralrat der Juden, de facto führte das zum Rückgang der Zuwander:innenzahl.

Die Aufnahmeregeln zum „Aufnahmeverfahren für jüdische Zuwanderinnen und Zuwanderer“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind seit 2005 strenger formuliert: Sie zielen darauf ab, nur noch solche Jüdinnen und Juden einreisen zu lassen, die sich auch klar zur jüdischen Religion bekennen. Potenzielle russisch-jüdische und meist säkulare Ein­wan­de­r:in­nen müssen den Behörden eine religiös-jüdische Identität vorgaukeln, um ihren Aufnahmeantrag bewilligt zu bekommen. Dass das wenig sinnvoll und nachhaltig ist, dürfte klar sein.

Mehrheit einer Minderheit

Die aktuelle Vaterjuden-Debatte ist vor diesem Hintergrund zurückgeblieben. 30 Jahre nach dem Beginn der Einwanderung von säkularen postsowjetischen Jüdinnen und Juden fokussiert man sich lieber auf Befindlichkeiten einzelner Personen, anstatt Probleme und Realitäten normaler Menschen zu thematisieren.

Die Erfahrung russischsprachiger Jüdinnen und Juden ist eben eine besondere. Sie ist geprägt durch Ausschlüsse. Einerseits als vermeintlich defizitäre Juden, weil sie säkular leben, und anderseits als Zuwanderer:innen, die von alteingesessenen Juden und der Mehrheitsgesellschaft oftmals nur als Mi­gran­t:in­nen wahrgenommen wurden. Im deutschen Diskurs findet diese Problemdarstellung selten Platz. Dabei bilden sie, die postsowjetischen Jüdinnen und Juden, die Mehrheit einer Minderheit. Sie bleiben, mal wieder, unsichtbar.

Dass die Fokussierung auf Max Czollek und persönliche Angriffe gegen ihn daneben sind, sollte klar sein. Doch der Punkt ist: Czollek hat wenig zu befürchten. Eine Person wie er, die als Publizist in der deutschen Öffentlichkeit einen festen Platz hat, deren Bücher und Texte in den Feuilletons positiv besprochen werden; eine Person also, die anerkannt und schon jetzt gehört wird, nimmt eine privilegierte Position ein. Dagegen sieht es für postsowjetische Jüdinnen und Juden, deren Identitäten seit 30 Jahren Gegenstand von Beurteilungen sind, schlecht aus.

Konflikt zwischen Alten und Neuen

Der Großteil der derzeitigen Debattenbeiträge trifft also nicht den Kern. Worum es doch wirklich geht, sind nicht die angeblich verheimlichten Familienverhältnisse des Publizisten Czollek, sondern ein verschleppter Konflikt, der vor 30 Jahren zwischen jüdischen Institutionen und den neu zugewanderten Jüdinnen und Juden entstanden ist.

Jahrzehnte interessierte sich kaum jemand für die Ungerechtigkeiten, die an der Einwanderungspraxis für jüdische Zu­wan­de­r:in­nen aus der ehemaligen Sowjetunion hingen. Nach 30 Jahren ist es an der Zeit, genau darüber zu sprechen.

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10 Kommentare

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  • Auf den weisen alten Mann hoert mal wieder keiner!

    taz.de/Debatte-um-Vaterjuden/!5794252/

    • @Volker Scheunert:

      Sorry, LOWANDORDER, hab Ihren Link uebersehen!

      • @Volker Scheunert:

        allet juti ;) R1

  • Bitte nicht solche verzerrten Überschriften.

    Der deutsche Staat legte weder von 30 Jahren noch heute fest, wer jüdisch ist.

    Das behauptet Frau Zingher auch nicht.

  • Die Debatte ist leider älter als 30 Jahre und auch nicht exklusiv in Deutschland.

    Auch das 1970 in Israel verabschiedete Rückkehrgesetz befolgt nicht die Halacha.

    "4A. (a) The rights of a Jew under this Law and the rights of an oleh under the Nationality Law, 5712-1952***, as well as the rights of an oleh under any other enactment, are also vested in a child and a grandchild of a Jew, the spouse of a Jew, the spouse of a child of a Jew and the spouse of a grandchild of a Jew, except for a person who has been a Jew and has voluntarily changed his religion."

    www.mfa.gov.il/mfa...n%205710-1950.aspx

    Hier reicht also schon ein jüdischer Großvater um nach Israel einzuwandern.

    Dies führt zu paradoxen Konstellationen.



    Will diese eingewanderte Person dann einen jüdischen Israeli heiraten und da es keine Zivilehe für jüdische Israelis gibt, wird das Oberrabbinat und das folgt der orthodoxen Auslegung der Halacha, keine Trauung vornehmen, weil es den Eingewanderten nicht als Jude anerkennt, also Chuppa in Zypern oder sonstwo...

    "Dass diese säkularen Juden weitestgehend assimiliert in ihren Herkunftsländern gelebt hatten und wenig Wissen im Bezug auf religiöse Rituale mitbrachten, wurde in Deutschland als Defizit gewertet."

    Und das war schon immer dumm. Da kommen Menschen aus einem seit Jahrzehnten mehr oder weniger streng atheistischen Gebiet, wo es bis zu Stalins Tod teilweise massive Repressionen gegen Juden gab und auch danach Antisemitismus kein Fremdwort war und spätestens seit den '60 stand die Sowjetunion auf Seiten der Araber gegen Israel und dann sind die Leute nicht so tief in der Materie drin, was neh Überraschung...

    www.deutschlandfun...:article_id=407175

  • Für mich sehr interessant, da ich keine Ahnung habe.



    Ich finde die Gemengelage ist für mich, nun, verworren.



    ...Progressive Stimmen wünschen sich die Inklusion von sogenannten Vaterjuden, also solchen Menschen, deren Vater jüdisch ist...



    Den Begriff Vaterjude lese ich heute zum ersten Mal.



    .....Ob man jüdisch sei oder nicht, richte sich nach den Regeln der Religion. Czollek mag sich dem Judentum nahe fühlen, ein echter Jude werde er dadurch trotzdem nicht. So Schusters Urteil...



    Hier irritiert mich sehr -ein echter Jude-.



    ...Zusammenprall zweier unterschiedlicher Verständnisse von Jüdischkeit: Orthodox-religiöse Identitätsvorstellungen stießen auf säkulare postsowjetische Jüdinnen und Juden...



    Allet kompliziert!(gemacht?)



    Ich bin ja so ein Überbleibsel von POS und EOS.(Zerspaner mit Abi..)



    Wenn ich versuche den Beitrag zu verstehen, bin ich bischen froh ein "Un"gläubiger zu sein.

    • @Ringelnatz1:

      Die Halacha akzeptiert die Vererbung der Zugehörigkeit nur über die Mutter (analog zum römischen pater semper incertus est).



      In allen anderen Fällen ist eine explizite Konversion vor einem Rabbinatsgericht notwendig.

      Wenn Schuster von einem "echten Juden" spricht, dann heisst das Jude im Sinne der Halacha -- beim Chef des Zentralrates sicher kein überraschender Standpunkt.

      Dass die Defintion von Jüdischkeit durchaus je nach Kontext variiert, ist naheliegend. Aber letztlich liegt es bei den Gemeinden, nach welchen Regeln sie entscheiden. Und wer ganz ohne Ambivalenz immer und überall als Jude gelten will, muss den Regeln der Halacha folgen, die sind nunmal der kleinste gemeinsame Nenner.

      • @flip flop:

        Danke für die Information.



        Interessant. Der Kopf glüht..!



        Spielt die .. Defintion von Jüdischkeit.. in Israel, eine Rolle bei berufl. Aufstiegschancen,



        Karriere, Militär..?

      • @flip flop:

        Richtig, außer: 613 Mitzvot sind kein sonderlich kleiner Nenner.

  • Sach mal für Spätgeborene so:

    “…



    Einwanderung aus der Sowjetunion



    Anzeige

    Wer sich in den vergangenen 30 Jahren mit der Geschichte der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden befasst hat, wird der derzeitigen Auseinandersetzung etwas überdrüssig sein. Was hier anklingt, ähnelt einer Diskussion, die in den neunziger Jahren in Deutschland fernab der deutschen Öffentlichkeit geführt wurde. Heute zeigt sich: Wirklich weitergekommen scheint in der Diskussion niemand zu sein.“

    Der könnte wissen - es war ein Alleingang vom Mr. Selbstherrlich Dr. 🪖 🥬 & sei Waffenschmidt - der der Verwaltung die Haare zu Berge bürstete!



    & der trockene Konter zu Zweifeln -



    “Wir selektieren nicht!“ von Ignaz Bubis unvergessen!;)



    de.wikipedia.org/wiki/Ignatz_Bubis

    & entre nous only =>



    Als der Neue von der Tochter meiner Lieblingscousine am Tisch saß.



    Schaute & hörte ich zweimal hin & sagte - “du bist doch aber kein Jude - odr?!“



    “Nein. Nein. Aber in Moskau kriegte ich den Tipp - was der Rabbi hören wollte.



    Auswendig gelernt & es hat geklappt!;)“



    & => Kaminer Russendisco läßt - Grüßen.

    So geht das.

    unterm———servíce —



    de.wikipedia.org/w...entfl%C3%BCchtling



    &



    taz.de/Juedische-K...chtlinge/!5727852/

    Ansonsten verweise ich zum Rest auf =>



    taz.de/Debatte-um-...5794252&s=Brumlik/



    & die e-kommune dazu -

    Gern&Dannichfür - 🧐 -