Jede und jeden einzeln ernst nehmen

Der Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“ von Maria Speth ist eine große Gesellschaftsanalyse im Kleinen aus der mittelhessischen Provinz

Schule kann bei Herrn Bachmann anscheinend sogar Spaß machen Foto: Grandfilm

Von Silvia Hallensleben

Eigentlich sollte an dieser Stelle ein Interview mit der Filmemacherin Maria Speth stehen. Doch die Regisseurin von „Herr Bachmann und seine Klasse“ musste das vereinbarte Einzelgespräch wegen chronischer Überarbeitung durch die Werbetour für ihre Arbeit absagen.

Das ist gut verständlich, denn der Film hatte nach der Auszeichnung mit dem Silbernen Bären auf der letzten Berlinale im März (und dem Publikumspreis der Sommer-Berlinale) einen ebenso rasanten wie lang anhaltenden Lauf und war auf Filmfestivals rund um die Welt eingeladen – immer begleitet von Präsentationen und Fragerunden der Regisseurin, die „Herr Bachmann“ auch selbst produziert und montiert hatte.

Nun kamen zum Filmstart noch einmal diverse Interviewtage. Das powert aus. Und führt nun hier dazu, dass die durchweg begeisterte Resonanz auf Speths sechste Regiearbeit um eine ausführliche Würdigung erweitert wird.

Mittlerweile dürfte jede und jeder einigermaßen Filmaffine schon einmal von „Herr Bachmann und seine Klasse“ gehört haben, der sich – wie im Titel angezeigt (und mit erfreulicher Geduld und Genauigkeit) – der sechsten Klasse einer hessischen Kleinstadt-Gesamtschule und einem ihrer Lehrer widmet. Es ist eine für städtisches Milieu recht übliche, an Persönlichkeiten und Herkünften bunt gemischte Klasse, wo viele Kinder noch mit der deutschen Sprache hadern.

Mehr als Wissen vermitteln

Und es ist ein sehr besonderer Lehrer, der seinen pädagogischen Auftrag weit über die Vermittlung von Stoff und Wissen hinaus so ernst nimmt wie seine Schülerinnen und Schüler selbst und das oft propagierte, aber selten eingelöste Motto vom „Non scholae, sed vitae discimus“ mit Leben füllt. Hier wird jede/r Einzelne ernst genommen. Und auch wenn die Blicke der Schülerinnen und Schüler bei manchen Aktionen erst mal ratlos scheinen, erwidern sie am Ende die Verbindlichkeit des Pädagogen durch eigenes Engagement.

Es überrascht nicht, dass ein Film mit solchem Stoff in mehrfacher Hinsicht einen Nerv trifft in Zeiten, wo die Coronadebatten den Diskurs über die Bedeutung von Schule gerade für sozial benachteiligte oder am Rand stehende Kinder in den Vordergrund geschoben haben. Auch Fragen gesellschaftlicher Diversität und kultureller Identitäten sind derzeit heiß umkämpft und oft ideologisch umzingelt.

Da lockt der Blick auf pädagogische Praxis mitten in der gesellschaftlichen Kampfzone Schule auch mit direkteren Einblicken und verspricht selbst Erkenntnis – ohne dabei naiv auf Objektivität zu setzen. Der Filmwissenschaftler und Filmpädagoge Alejandro Bachmann (nicht mit dem Lehrer Dieter Bachmann verwandt oder verschwägert) hat in einem sehr lesenswerten Text in einem Begleitheft des Grandfilm-Verleihs zum Film die performative Verwandtschaft von Schulunterricht und Dokumentarfilm beschrieben, die auch Maria Speth zu Beginn ihres Films in der spielerischen Parallelführung beider Inszenierungen etabliert.

Nach einer frühmorgendlichen Schulbusfahrt durch die Dämmerung und einigen Stadtansichten hören wir da Herrn Bachmann erst mal nur als Stimme aus dem Off, als er seinen gerade in Mänteln das Klassenzimmer stürmenden Schü­le­r*in­nen eine Regieanweisung gibt: „So, alle noch einmal hinausgehen, die Ilknur hat geredet.“ So geschieht es dann auch, bevor die Kinder wieder – diesmal schweigend – in die Klasse kommen, sich die Mäntel ausziehen und setzen.

Es folgt die Frage ans Kollektiv, wer fehlt. „Dann haben wir doch alle, oder?“, sagt Herr Bachmann. Und gibt allen Gelegenheit, noch einmal zwei Minuten mit dem Kopf auf dem Tisch auszuruhen. Erst dann der Gegenschnitt auf einen älteren Mann mit Wollmütze und grauem Hoodie, der mit scheinbar mürrischem Gesicht hinter dem Lehrertisch, einigen Aktenordnern und einem künstlichen Weihnachtsbäumchen sitzt. Im Weiteren beobachtet die Kamera von Reinhold Vorschneider erstaunlich fluide das muntere Hin und Her in der Klasse.

Die Schü­le­r*in­nen sind zwischen zwölf und vierzehn Jahre alt und damit in einem Alter, wo es von der Kindheit ins Jugendalter geht und sich die Wege für das weitere Leben langsam abzeichnen. Das Jahr ist auch das letzte für alle gemeinsame, bevor sie nach Leistungsstand und Einschätzung der Leh­re­r*in­nen getrennt werden für drei unterschiedliche weiterführende Schultypen.

Verhindern lässt sich diese Einsortierung und der dadurch entstehende Leistungsdruck im bestehenden Bildungssystem nicht, aber Einfluss nehmen auf die Gerechtigkeit der Entscheidungen, wie wir in wie nebenbei beobachteten Besprechungen hören. Und es lässt sich daran arbeiten, wie die getroffenen Entscheidungen von den Schü­le­r*in­nen erlebt und wahrgenommen werden.

Dieter Bachmann gehört zu denen, deren Schulzeit noch von in der Nazizeit ausgebildeten Lehrerinnen und aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Lehrern bestimmt war. Er selbst kam spät als Quereinsteiger in den Lehrberuf. Wie wir anfangs gehört haben, ist der Verzicht auf Autorität nicht seine Sache, genauso wenig (trotz des Hoodies) pseudojugendliche Anbiederei.

Der eigene kulturelle Hintergrund der Jugendlichen trifft ganz selbst­verständlich auf fremdes Material

Bezeichnend eher das darüber getragene AC/DC-T-Shirt als persönlicher Geschmacksausdruck. Denn Musik und gemeinsames Musizieren spielen eine große Rolle rund um den Unterricht des kurz vor dem Ruhestand stehenden Lehrers. Und das ist nicht Rap oder HipHop, sondern die Musik seiner Generation (der Boomer). Ein bulgarisches Mädchen lässt er zur Gitarre „Hejo, spann den Wagen an“ singen oder im Kollektiv den legendären Anfangsriff von „Smoke on the Water“ interpretieren.

So trifft der eigene kulturelle Hintergrund der Jugendlichen ganz selbstverständlich auf fremdes Material, und die mit großer Offenheit gesteuerte dialektische Auseinandersetzung ist (neben seinem ernsthaften Interesse an den Kindern) die andere große Kunst, die Herr Bachmann exzellent beherrscht. Dabei werden die Vorbehalte eines gut Deutsch sprechenden Jungen gegenüber der Sprachförderung für die Neuankömmlinge ebenso direkt angesprochen wie die stereotypen Haltungen einiger migrantischer Jungen und Mädchen gegenüber der Homosexualität.

Drei Jahre hat Maria Speth im Schneideraum gesessen, um die gedrehten 200 Stunden Material auf 217 Minuten Film zu reduzieren. Man muss sie bewundern für die Arbeit und das Ergebnis, das dreieinhalb Stunden gekonnt die Spannung hält und immer neue personelle Schwerpunkte und Kleinschauplätze eröffnet.

Speth gibt ihrem Film, der eigentlich als Stadtporträt geplant war, aber auch immer wieder Resonanzraum mit Totalen der die Stadt umgebenden weiten mittelhessischen Landschaft, der Stadt selbst und der Industrieanlagen, wo die Eltern vieler Kinder arbeiten. Und sie begleitet diese bei einem Besuch in der örtlichen Gedenkstätte, die sich Forschungen und Information zu den Themen Rüstungsindustrie und Zwangsarbeit zur Aufgabe gemacht hat. Denn das Fachwerkdörfchen Allendorf wurde erst 1938 zum Industriestädtchen Stadtallendorf, als die Nazis hier die größte Sprengstoffproduktionsanlage Europas errichteten.

Nach dem Krieg (bis heute) sind die größten Arbeitgeber eine Eisengießerei und der Süßwarengigant Ferrero, der hier seinen deutschen Produktionsstandort hat. So erkennen die Kinder, dass sie und ihre neue Heimat Teil einer langen Geschichte sind, die von den ersten Zwangsarbeitern der NS-Zeit bis zu den Flüchtlingen von heute reicht. Und für uns Zuschauer ist „Herr Bachmann und seine Klasse“ ganz so wie sein Protagonist ein Film, der in viele Richtungen Fäden der Erkenntnis auswirft und Lust macht, sie weiterzuspinnen.

„Herr Bachmann und seine Klasse“. Regie: Maria Speth. Deutschland 2021, 217 Min.