Die Obdachlosigkeit abschaffen

Wenige Wochen vor der Wahl präsentiert die Sozialsenatorin ihren Masterplan zur Überwindung der Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030. Ein Abgleich mit den Erfahrungen von Betroffenen und Ex­per­t*in­nen zeigt die Knackpunkte

Von der Parkbank in den Neubau: 10 Prozent der neu zu vermietenden Wohnungen sollten laut Breitenbach für Obdachlose reserviert werden Foto: Henning Angerer/imago

Von Manuela Heim

In gleich zwei Veranstaltungen der letzten Tage ließ sich viel über die Obdachlosigkeit in dieser Stadt erfahren: Zunächst sprachen Ex-Obdachlose, Angehörige und Hel­fe­r*in­nen in einem Stuhlkreis über das ganze Dilemma, das Berlin in eine bürgerliche und eine Schattenwelt teilt. Am vergangenen Freitag stellte Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Die Linke) dann passenderweise ihren „Masterplan zur Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“ vor. Ist das der Bämm-Moment, auf den alle warten, die es nicht ertragen wollen, dass Obdachlosigkeit zum Straßenbild Berlins gehört?

„Die anderen Menschen schauen dich an, als wärst du abstoßend und irgendwann glaubst du das selbst“, erzählt ein Mann beim Stuhlkreis der Betroffenen, Hel­fe­r*in­nen und Expert*innen. Er war selbst jahrelang wohnungslos. Inzwischen arbeitet er als Peer-to-Peer-Berater – das sind Ex-Obdachlose, die vermitteln zwischen den zwei Welten: „Das hat nicht nur mich gerettet“, sagt er.

„Das heftigste Gefühl in meiner Arbeit ist Machtlosigkeit“, erzählt eine Mitarbeiterin der medizinischen Hilfe. Gerade im Winter würden Menschen mit Pflegebedarf und psychiatrischen Erkrankungen bei ihnen „abgeladen“ – ohne Perspektive.

Housing First Versorgung obdachloser Menschen mit Wohnraum als oberstes Prinzip: ohne Bedingungen wie etwa Mitwirkung, Krankheitseinsicht, Therapiewillen, Abstinenz.

Safe Places Orte, von denen Menschen nicht vertrieben werden. Dort können Obdachlose leben und etwa dauerhaft Zugang zu Wasser haben.

Peer-to-Peer-Konzepte Zentral in der Obdachlosenhilfe ist der Aufbau von Vertrauen. Daher setzt man auch auf Menschen, die selbst von Obdachlosigkeit betroffen waren.

24-Stunden-Unterkünfte Normalerweise müssen die Obdachlosen die Unterkunft morgens wieder verlassen. Das Konzept soll ab Oktober für zwei Jahre angeboten werden.

Obdachlosenzählung Berlins erste Obdachlosenzählung 2020 erfasste 1.900 Menschen. Sie soll im Sommer 2022 wiederholt werden. (mah)

„Im ganzen System steckt Gewalt“, sagt die Mitarbeiterin einer Wohneinrichtung. Das Verlangen nach Krankheitseinsicht, nach Abstinenz, nach Mitwirkung: „Bevor du an deine Hilfe kommst, sind deine Ressourcen schon aufgebraucht“, sagt auch einer, den die psychische Erkrankung aus der Bahn warf.

Ein Masterplan, der hier Abhilfe schaffen will, der nicht weniger verspricht, als Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu überwinden, weckt große Erwartungen. Die Sozialsenatorin schöpft bei der Vorstellung nicht aus dem Leeren, sie hat die Maßnahmen, die sie nun ausweiten und verstetigen will, in den vergangenen Jahren als Modellprojekte eingerichtet oder als Neuerungen eingeführt: Housing First und Safe Places, 24-Stunden-Unterkünfte statt nächtlicher Nothilfe, Peer-to-Peer-Beratung, die erste Obdachlosenzählung Berlins, das Konzept einer gesamtstädtischen Steuerung der unübersichtlichen Hilfsangebote (siehe Kasten).

Breitenbach macht auch gleich klar: Teurer als bisher soll es mit ihrem Masterplan nicht werden. Es sei zwar bereits viel Geld im System, rechnet die Sozialsenatorin vor. Weit über 300 Millionen Euro gibt Berlin jährlich für die Notversorgung wohnungsloser Menschen aus. „Aber die Situation hat sich nicht nachhaltig verändert und deshalb müssen wir das Geld anders einsetzen“. Denn wenn ein Mensch erst wohnungslos ist, werde es fast immer teurer, sagt die Senatorin. Deshalb sollen in ganz Berlin Präventionsteams eingesetzt werden, die bislang nur in vier Bezirken unterwegs sind. Die Stadtteilzentren sollen stärker in die Prävention einbezogen werden. Es soll Vereinbarungen mit den Bezirken und dort mit den Ver­mie­te­r*in­nen geben, um ein einheitliches und schnelles (binnen 10 Tagen!) Vorgehen im Wohnungsnotfall zu gewährleisten.

Zentraler Paradigmenwechsel des Masterplans aber ist die Einführung von Housing First als Leitprinzip. Dafür braucht es allerdings sehr viel mehr Wohnungen als die knapp 80 im Modellprojekt. Breitenbachs Antwort: Eine feste Quote. Alle landeseigenen Wohnungsgesellschaften sollten 10 Prozent ihrer neu zu vermietenden Wohnungen dafür bereitstellen – insgesamt wären das bis zu 1.900 Wohnungen jährlich. Der Bestand der landeseigenen Berlinovo, die bislang vor allem Mikroappartements im höheren Preissegment an Studierende und Geschäftsleute vermietet, solle komplett der sozialen Wohnraumversorgung zukommen, fordert Breitenbach. Außerdem sollen die bestehenden Wohnungslosenunterkünfte, in denen Menschen teils Jahre ohne Perspektive und für viel Geld untergebracht werden, in Wohnungs- und Appartementstrukturen umgebaut werden. Der Masterplan sieht dafür ein Förderprogramm vor. Generell bei allen Angeboten die Gleichberechtigkeit der obdachlosen Menschen im Vordergrund stehen. Auch Breitenbach ist Verfechterin des Peer-to-Peer-Konzepts, will es breiter einsetzen.

Breitenbach macht klar: Teurer als bisher soll es nicht werden

„Nur wenn die Menschen selbstbestimmt über ihr Leben entscheiden können, ist das nachhaltig“, sagt die Senatorin und klingt damit tatsächlich wie die Appelle der ehemaligen Obdachlosen und Hel­fe­r*in­nen aus dem Stuhlkreis. Doch es bleiben große Fragen. Wie die nach den EU-Bürger*innen, die in Deutschland zum Teil keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Bleiben die in der Schattenwelt? Das betreffe nicht die Mehrzahl der obdachlosen Menschen, sagt Breitenbach ausweichend. Zahlen aus Wohnungslosenunterkünften, von der Obdachlosenzählung 2020 und frühere Aussagen der Senatorin selbst stellen dies infrage.

Ach, und dann gibt es noch den größten Haken, keine vier Wochen vor der Wahl: Ein derart umfassendes Konzept verlangt die Zusammenarbeit aller Regierungsabteilungen. Man traut einer Elke Breitenbach vielleicht sogar zu, das durchzuboxen. Aber dafür müssten sie und die Linke erst einmal in der Regierungsverantwortung bleiben.