Der Elefant im Raum

Wo sind die mutigen muslimischen, die wütenden arabischen Stimmen, die Gerechtigkeit fordern gegen die Talibanisierung der gesamten muslimischen Welt? Ein Aufruf zur Selbstkritik

Soll das die muslimische Normalität sein? Ein Taliban­kämpfer betrachtet in Kabul Plakate von Taliban­führern Foto: ap

Von Ibrahim Quraishi

Mein Onkel Abu-­Gharb (ironischerweise bedeutet sein Name übersetzt: „Lieber Westen“) sagte neulich am Telefon:

„Ich bin Muslim, ein echter Gläubiger, der im Westen lebt. Ich bin hierher gezogen, weil ich selbstverständlich in Freiheit leben möchte, die mir die sogenannte Demokratie bieten kann. Noch wichtiger ist mir, die Freiheit zu haben, ein guter Muslim, eben ein guter Mensch zu sein: Ich protestiere gegen Israel. Ich setze mich für die Rechte der Palästinenser ein. Aber ich spreche mich nur ungerne gegen die Taliban, Isis oder gar al-Qaida aus, denn das ist nicht mein Ding. Ehrlich gesagt, sind alle Probleme dort drüben die Schuld des Westens. Die aus dem Westen haben sie geschaffen, sie haben uns kolonisiert und sie führen immer noch ihre Kreuzzüge gegen uns. Sie kontrollieren unser Öl und unser Volk, deshalb haben die USA Osama bin Laden erfunden, um ihren sogenannten Krieg gegen den Terror zu rechtfertigen. Aber am Ende kontrollieren eh die Juden alles. Schau dir doch Soros an!“

Ja, beschuldigt den Westen, den Kolonialismus, beschuldigt die, die uns angeblich hassen und den Islam zerstören wollen. Ja, auch dem Monster unter dem Bett können wir die Schuld geben.

Wir müssen endlich aufhören, den Elefanten im Raum zu ignorieren. Letzten Endes liegt die Verantwortung bei Millionen und Abermillionen passiver Gläubiger. Denjenigen, die sich in ihrem kollektiven Schweigen weigern, wenn es um islamischen Fundamentalismus geht, auf den Podien der Weltöffentlichkeit ihre Stimme zu erheben. Denjenigen, die immer Wege finden werden, um Frauenfeindlichkeit und Hass auf andere zu rechtfertigen, und die immer Ausreden für Intoleranz auf jeder nur denkbaren Ebene finden.

Diese unschuldigen Sym­pa­thi­san­t:in­nen wie mein Onkel finden immer Entschuldigungen für das Unerträgliche. Und es ist in der Tat ihnen, Leuten wie ihm, den Gläubigen des Islams und ihren linken, politisch-korrekten Freun­d:in­nen und den Po­li­ti­ke­r:in­nen zu verdanken, die ein solch unaufrichtiges Spiel der Beschwichtigung religiöser Intoleranz spielen, dass wir uns heute in einer so schrecklichen kulturellen und politischen Sackgasse befinden.

Stimmen gegen den Hass

Foto: Galerie Crone

Ibrahim Quraishi, 1973 in Nairobi, Kenia geboren, lebt und arbeitet in Amsterdam und Berlin. Der preisgekrönte Künstler und Filmemacher arbeitet mit unterschied­lichen Medien darunter Fotografie, Tanz, Performance, Video und Malerei. Im Herbst 2022 erscheint sein Buch: „Being Everywhere, Being Nowhere“ bei Seven Stories Press, New York.

Wir wissen nur zu gut, dass soziale Revolutionen nicht nur von politischen Parteien oder außerparlamentarischen Gruppen, Militärjunten, Stammesführern oder gar religiösen Kadern gemacht werden, sondern das Ergebnis massiver historischer Kräfte und tief verwurzelter, soziokultureller Frustrationen mit nicht enden wollenden Widersprüchen sind. Sie sind es, die bestimmte oder oft sogar große Teile einer Bevölkerung dazu bringen, sich gegen das Unerträgliche zu mobilisieren. Wann wird der Punkt erreicht sein, an dem die anhaltende Radikalisierung in praktisch allen islamischen Ländern von Marrakesch bis Jakarta gestoppt wird? Was ist unser Endspiel? Wenn wir millionenfach Gerechtigkeit für die Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen fordern, dann sollte es kein Problem sein, genau diese Stimmen zu bekommen, um gegen alle uns umgebenden Formen von Intoleranz und Hass zu protestieren.

Wo sind die mutigen muslimischen, die wütenden arabischen Stimmen, die Gerechtigkeit fordern gegen die Talibanisierung der gesamten muslimischen Welt? Wann ist es endlich erlaubt, sich gegen die ständige Instrumentalisierung des Islams zur Aufrechterhaltung von Hass und messianischer Gewalt zu wehren? Warum wird weiterhin endlos geschwiegen? Wann werden wir aufhören, im Namen der Religion zu töten? Schluss, aus, es reicht!

Das Elend allein kann keinen Widerstand hervorbringen; oft scheint es eine hoffnungslose Demoralisierung des menschlichen Zustands zu zementieren. Schlimmer noch: Wenn diese Verzweiflung den Menschen überwältigt, zerstört sie seine Seele, seinen Geist und stellt letztendlich seine gesamte Existenz infrage.

Die Frage des Überlebens scheint bei den wahren Gläubigen auf tödliches Schweigen zu stoßen, insbesondere wenn es um das Leben unschuldiger Opfer geht, die in muslimischen Ländern als auf der falschen Seite der Religion angesehen werden.

Wenn man die grundlegenden Probleme hinterfragt, die tatsächlich im Namen der Religion selbst und insbesondere in islamischen Ländern auftreten, wird uns ständig gesagt: „Aber ja, der Islam ist eine friedliebende Religion. Wissen Sie eigentlich, dass Frauen im Islam mehr Rechte haben als im Westen? Und dass die Menschen in muslimischen Ländern glücklicher sind? Und bestimmt wissen Sie auch, dass der wahre Islam nicht gezeigt wird, weil der Westen ihn zerstört.“

Es scheint nie eine wirkliche Akzeptanz einer inneren Kritik sowohl des ideologischen als auch des geistigen Reiches zu geben. Die Dogmen laufen auf Hochtouren.

Es scheint nie eine wirkliche Akzeptanz einer Kritik der muslimischen Welt von innen heraus zu geben

Wann werden unsere Menschen aus den arabischen und muslimischen Ländern anfangen, Nein zur Unterdrückung in all ihren Formen zu sagen? Wann werden wir aufhören, uns über diejenigen zu ärgern, die angeblich unseren Propheten beleidigen? Wann werden wir uns tatsächlich dafür einsetzen, dass politische und religiöse Autoritäten aufhören, die islamische Rechtsprechung, geprägt von Scharia und Blasphemiegesetzen, zu missbrauchen, um Repressionen in ebendiesen muslimischen Ländern fortzusetzen?

Wann werden Mi­gran­t:in­nen wie ich, die bequem im Westen leben, den kollektiven Mut aufbringen, ­gegen Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus, Hass auf andere religiöse und kulturelle Minderheiten, gegen geschlechtsspezifische Gewalt, gegen bösartige Angriffe auf LGBTIQ+-Gemeinschaften in unserem eigenen Hinterhof zu kämpfen? Wann werden wir aufhören, das Unvertretbare zu verteidigen, und uns dem 21. Jahrhundert anschließen, anstatt ständig dem Westen die Schuld an unserer eigenen inneren Misere zu geben? Wann werden wir aufhören, die Opfer zu beschämen? Und wann werden sich die Klänge des Adhan – unseres muslimischen Gebetsrufs – zu denen von lachenden, sorglos tanzenden und spielenden Kindern gesellen? Wann wird der Ruf des Muezzins nicht die einzig erlaubte Stimme im öffentlichen Raum sein? Wann werden wir Muslime endlich zur Normalität zurückkehren?

Wann?

Aus dem Englischen von Zuri Maria Daiß und Oliver L. Baurhenn