Zugverbindungen auf dem Land: Alte Strecken, neue Liebe

In Niedersachsen könnten 36 stillgelegte Bahnstrecken reaktiviert werden, sagen Grüne und Fahrgastverbände. Die Regierung lege die Hände in den Schoß.

Roter Linienzug steht vor Bahnhofsgebäude

Sonntagsfahrten für Ausflügler gibt es mit dem Moorexpress, wie hier am Halt Worpswede, heute schon Foto: dpa

HAMBURG taz | Früher waren Bahnstrecken auf jeder Landkarte zu sehen. Heute muss man schon die Ansicht großzoomen, um zum Beispiel die zarten grauen Linien von Harpstedt nach Delmenhorst zu entdecken. Die beiden Orte verbindet nicht nur ein Fluss, die Delme, sie sind auch durch 25 Kilometer Eisenbahnlinie verbunden, die nur für Güterverkehr genutzt wird. In Harpstedt gibt es Pendler in Richtung Delmenhorst und Bremen, heißt es in einer Broschüre, die die niedersächsischen Grünen im Juli vorgestellt haben. „Eine Reaktivierung der Bahnstrecke würde auf großes Interesse der Bevölkerung treffen.“

36 Bahnstrecken führt der verkehrspolitische Sprecher der Grünen Landtagsfraktion, Detlev Schulz-Hendel, in der Broschüre auf. „Das Potenzial für die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken in Niedersachsen ist sehr groß“, sagt er. Deshalb sei es höchste Zeit, dass die schwarz-rote Landesregierung „die Bremsen löst“. Denn mehr Angebote im öffentlichen ländlichen Raum belebten auch die Nachfrage danach.

Die Namen der Orte, die an diesen Strecken liegen, sagen dem Großstädter wenig – kein Wunder, wenn seit den 1970ern kein Zug mehr hinfährt. Wenn der pensionierte Pastor Wolfgang Konu­kiewitz vom Nahverkehrsbündnis Niedersachsen die Bahnhofs-Orte nennt, klingt das etwas ehrfurchtsvoll, als spräche er von alten Stars. So verbindet der „Moorexpress“, der im Sommer von Bremen aus Richtung Stade fährt, Orte wie Osterode, Nordsode, Brillit, Basdahl oder Fredenbek, es geht durch das Teufelsmoor und vorbei am einstigen Künstlerdorf Worpswede.

Für die Reaktivierung der alten Strecken gebe es „eine Bewegung von unten“, sagt Konukiewitz. Eine junge Generation von Bürgermeistern wolle für ihre Orte den Anschluss an die Bahn. Ein feingliedriges Netz von Strecken, deren Schienen noch vorhanden sind, könnte nicht nur helfen, den Autoverkehr zu reduzieren – immerhin leben mehr als die Hälfte der Deutschen im ländlichen Raum –, es könnte auch die Ansiedlung junger Menschen auf dem Land befördern. In Lüneburg zum Beispiel könnten Studierende, die in der Stadt keine Wohnung finden, in umliegende Orte ziehen. Schulz-Hendels Broschüre führt gleich zwei Zugstrecken auf, die von der einstigen Salzhandelsstadt aus in andere Orte führen und wiederbelebt werden können. Die Instandsetzung könne in kurzer Zeit erfolgen, heißt es in der Grünen-Broschüre.

Von 2013 bis 2017, als in Niedersachsen die Grünen mitregierten, untersuchte die „Landesnahverkehrsgesellschaft“ 74 stillgelegte Zugstrecken auf ihr Potenzial. Nur drei davon schafften es damals in die Endauswahl: die Zugstrecke von Bent­heim nach Neuenhaus, eine kurze Strecke nahe Göttingen von Einbeck-Salzderhelden nach Einbeck-Mitte. Und als dritte eine Zugstrecke von Buchholz über Maschen, vorbei an Jesteburg nach Hamburg-Harburg.

Die ersten zwei Strecken sind heute wieder im Betrieb. Die dritte Strecke konnte aus technischen Gründen nicht wiederbelebt werden, weil dort noch bis 2027 eine Art Brücke zur Kreuzung von parallel laufenden Gleisen gebaut werden muss.

3,8 Millionen eingesparte Autokilometer im Jahr

Das Zauberwerk, das der Entscheidung für oder gegen eine Bahnstrecke zugrunde liegt, nennt sich „Nutzen-Kosten-Rechnung“. Für die Strecke von Buchholz über Maschen nach Harburg zum Beispiel rechneten die Prüfer etwa 1.000 zusätzliche Zugfahrten am Tag, 3,8 Millionen eingesparte Autokilometer im Jahr sowie die Einsparung von 65.000 Stunden Reisezeit und 242 Tonnen CO2 im Jahr. Diese Zahlen wurden in Geld umgerechnet und mit Investitionskosten verrechnet. Unterm Strich lag das so errechnete „Nutzen-Kosten-Verhältnis“ über dem Wert eins, also schien es volkswirtschaftlich lohnend.

Die etwas längere Strecke von Lüneburg nach Soltau hätte mehr Einwohner mit mehr Arbeitsplätzen erreicht, mehr Reisezeit, CO2 und Autofahrten gespart, kam aber bei höheren Betriebskosten und Investitionen auf ein negatives Kosten-Nutzen-Verhältnis.

Doch diese früher verwendete „standardisierte Bewertung“ sei „schräg, weil sie ländliche Räume benachteiligt“, sagt Detlev Schulz-Hendel. Das weiß auch die Bundesregierung, die bis 2030 die Fahrgastzahlen auf der Schiene verdoppeln und den Güterverkehr dort um 25 Prozent erhöhen will. Anfang 2020 hat sie darum das „Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz“ novelliert. Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) hat angekündigt, die Förderung zunächst auf eine Milliarde Euro jährlich und ab 2025 auf zwei Milliarden jährlich zu erhöhen, wovon Niedersachsen etwa 200 Millionen Euro bekäme.

Die Gesetzesnovelle schreibt auch vor, dass die „standardisierte Bewertung“ überarbeitet wird. Umwelt- und Klimaschutz, die Daseinsvorsorge und die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sollten „stärker berücksichtigt werden“, heißt es aus dem Scheuer-Ministerium. Doch wie das niedersächsische Verkehrsministerium der taz mitteilt, hat der Bund im April 2021 für diese Überarbeitung ein „aufwändiges Verfahren mit wissenschaftlicher Begleitung“ gestartet. Laut den Landtags-Regierungsfraktionen von SPD- und CDU ist mit endgültigen Ergebnissen „voraussichtlich erst in ein bis zwei Jahren zu rechnen“.

Neidisch auf Baden-Württemberg

Die Grünen, das Nahverkehrsbündnis und auch der Verkehrsclub Deutschland (VCD) werfen der niedersächsischen Landesregierung vor, die Hände in den Schoß zu legen. „Es gibt hier einen Stillstand“, sagt Wolfgang Konukiewitz. „Niedersachsen macht gar nichts“, sagt Schulz-Hendel. Sogar von SPD-Politikern aus Kommunen höre er Klagen darüber, dass sie ihre Machbarkeitsstudien selbst zahlen müssen. Er sei richtig neidisch auf Baden-Württemberg. „Die haben angekündigt, dass sie bis Ende 2021 32 Strecken zur Bundesförderung anmelden werden“.

Das Land wolle „stillgelegte Gleise zu neuem Leben erwecken“ und den öffentlichen Nahverkehr bis 2030 verdoppeln, teilt das Baden-Württembergische Verkehrsministerium mit. Reaktivierungen der Vergangenheit zeigten, dass diese „viel attraktiver sind, als angenommen wurde“. Um die Fördermittel optimal einzusetzen, habe man eine „vergleichende Potentialuntersuchung“ durchgeführt und für mehr als 30 Strecken ein „relevantes Fahrgastpotential“ entdeckt. Nun fördert im „Ländle“ das Verkehrsministerium „Machbarkeitsstudien“ für die einzelnen Gemeinden.

In Niedersachsen dagegen müssen die Landkreise das Geld für solche Studien selbst aufbringen. Das allerdings ist noch nicht das Problem: „An Geld mangelt es nicht, aber an gutem Willen“, sagt Grünen-Politiker Detlev Schulz-Hendel, der auch Vize-Bürgermeister von Amelinghausen ist, das an einer der stillgelegten Bahnstrecken nach Lüneburg liegt.

Die Bemühungen zur Bahn-Reaktivierung sei unter Niedersachsens aktueller Landesregierung „nahezu zum Erliegen gekommen“, sagt Hans-Christian Friedrichs vom Verkehrsclub Deutschland. Dabei sei allen bewusst, dass angesichts des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom 24. März zum Klimaschutz Handlungsbedarf besteht. Friedrichs: „Wir erwarten, dass zumindest die Ini­tiativen der Landkreise, Städte und Gemeinden finanziell gefördert werden, die durch eigene Gutachten die wirtschaftliche Reaktivierung von Strecken nachweisen wollen.“

Die Grünen haben dazu im Landtag zwei Anträge gestellt, die im zuständigen Ausschuss schmoren. So solle die SPD-CDU-Regierung Machbarkeitsstudien finanziell fördern, die bis rund 100.000 Euro kosten können. Zudem soll sie schnellstmöglich wie Baden-Württemberg eine „landeseigene Konzeption“ entwickeln, um Strecken zur Bundesförderung anzumelden. Dafür solle sie einen „überparteilichen Lenkungskreis“ einrichten, wie es ihn unter Rot-Grün von 2013 bis 2017 schon einmal gab. Und schließlich solle sie sich im Bund dafür einsetzen, dass die standardisierte Bewertung sofort überarbeitet wird.

Die Regierungsfraktionen von SPD und CDU weisen die Kritik zurück: Es würden doch immerhin einige Projekte umgesetzt und weitere geprüft, sagt der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Christos Pantazis. Die Sprecherin des niedersächsischen Verkehrsministeriums Laura Gosciejewicz führt fünf Strecken auf, an denen sich etwas tut oder tun könnte. So soll 2027, nach dem Bau der fehlenden Brücke, die Aktivierung der Strecke Buchholz – Harburg „möglich sein“. Auch werde man bei Vorliegen der Voraussetzungen für eine 1,7-Kilometer-Strecke zwischen Salzgitter-Lebenstedt und Salzgitter-Fredenberg Bundesmittel akquirieren. Ferner prüfe man eine Aktualisierung der Bewertung der Strecke von Braunschweig-Gliesmarode nach Harvesee unter der Bedingung eines Halbstundentakts. Als viertes Projekt soll die bereits gut genutzte Strecke von Bentheim nach Neuenhaus ins niederländische Coevorden verlängert werden. Und schließlich haben der Landkreise Lüneburg und der Heidekreis eine erneute Bewertung der Strecke Soltau-Lüneburg-Bleckede beauftragt.

Wolfgang Konukiewitz, Nahverkehrsbündnis Niedersachsen, über die zurückhaltende Poltik Niedersachsens bei der Reaktivierung alter Bahnstrecken

„Niedersachsen ist Autoland. Die fürchten die Konkurrenz der Bahn. Autoland will keine Bahn“

Für die meisten Forderungen der Grünen sei es jedoch zu früh, heißt es aus den Regierungsfraktionen. Eine erneute breite „Reaktivierungsuntersuchung“ sei erst sinnvoll, wenn die Förderbedingungen durch den Bund feststünden, sagt Ministeriumssprecherin Laura Gosciejewicz.

In einem eigenen Antrag fordern CDU- und SPD-Fraktion die Landesregierung auf „mit Nachdruck“ für deren rasche Überarbeitung der „standardisierten Bewertung“ zu sorgen, und nach dessen Abschluss den von den Grünen geforderten Lenkungskreis wieder einzusetzen. Die Fraktionen rechnen damit in ein bis zwei Jahren. Bis dahin bringen sie als „Zwischenlösung“ die Förderung von Landesbuslinien ins Gespräch.

Machbarkeitsstudien sind machbar

Das Scheuer-Ministerium hat allerdings angekündigt, bis Ende 2021 mit der Überarbeitung fertig zu sein. Auf Nachfrage der taz erklärt eine Sprecherin: „Die Länder können mit vorbereitenden Maßnahmen wie zum Beispiel Machbarkeitsstudien beginnen, weil diese unabhängig von dem derzeit sich in Erarbeitung befindlichen Verfahren des Bundes benötigt werden.“ Dies werde vom Bund auch „seit Längerem so gegenüber den Ländern kommuniziert“.

Wolfgang Konukiewitz, mit seinen 80 Jahren ein begeisterter Bahnfahrer, vermutet, dass die Zurückhaltung der Landesregierung noch andere Gründe hat. „Niedersachsen ist Autoland. Die fürchten die Konkurrenz der Bahn. Autoland will keine Bahn.“ Die Politiker älteren Typs wollten das Auto nicht aufgeben. „Für die ist Bahn etwas für arme Leute.“

Doch bei einem Punkt könnte es schon früher eine Verständigung geben: bei den „touristischen Verkehren“. Quer übers Land gibt es 14 verschiedene Linien, größtenteils von Bahnliebhabern ini­tiiert – wie den „Heideexpress“ durch die Lüneburger Heide oder den Zug mit dem Namen „Kaff-Kieker“, der immer sonntags von Syke über die Dörfer nach Eystrup fährt. „Es geht hier nicht um Museumsbahnen“, erläutert Konukiewitz. Diese touristischen Verkehre, bei denen oft das Rad mit in die Züge genommen werde, um damit zurückzufahren, seien ein „wichtiger Vorläufer für die Strecken-Reaktivierung“.

Grüne und Fahrgastverbände fordern, dass diese Linien vom Land Niedersachsen aus „bestellt“ werden, sodass auch finanzielle Risiken abgemildert und Fahrpreise günstiger werden. Immerhin regen nun auch CDU und SPD eine „gesonderte Förderung“ touristischer Schienenverkehre an. Vielleicht wird es ja doch noch was mit dem Bahnverkehr in Niedersachsen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.