Rio Reisers Todestag: Land in Sicht
Am 20. August vor 25 Jahren ist Rio Reiser gestorben. Er war ein genialer Autor. Versuch einer Songanalyse.
Also, der Versuch einer Gedichtanalyse wie fürs germanistische Grundseminar. Der Titel des Songs, den man auch als vertontes Gedicht bezeichnet, lautet „Land in Sicht“, wurde 1971 von Ralph Möbius, besser bekannt als Rio Reiser, und R.P.S. Lanrue getextet und komponiert und erschien 1975 auf dem dritten Album ihrer Band Ton Steine Scherben „Wenn die Nacht am tieftsten …“.
Thema des Songs ist die heilende Kraft der Natur. Er entstand in dem Jahr, als nach einem Konzert von Ton Steine Scherben in Berlin das legendäre Rauch-Haus besetzt wurde – und somit eine neue Kampfform geschaffen wurde, um Freiräume in einer immer enger werdenden Welt zu erobern.
Allerdings wurde der Song von Kritiker*innen in der linken Szene als unpolitischer Ausdruck der Flucht der Band aus Kreuzberg ins nordfriesische Friesenhagen interpretiert, wo die Band billig einen heruntergekommenen Bauernhof erstanden hatte.
Tatsächlich wollte Rio Reiser schon vor seiner Landflucht mit dem Song ein neues Kapitel in der Geschichte der Band aufschlagen, die bisher als die Erfinder Kreuzbergs gehandelt wurden, als gefürchtetste Band der Republik, als Auftragsschreiber für die RAF, als Lehrlingsagitrocker für Jungproleten. Er konnte, wie er später sagte, die Plena und Manifeste, die „triste linke Kleiderordnung“ und nicht zuletzt die ewige Geldnot in den dunklen Hinterhöfen der Frontstadt nicht mehr ertragen.
Biblische Ideen
Der Song beschreibt ein lyrisches Ich, das eines Morgens irgendwo auf dem Land aufwacht und plötzlich angesichts von Wald, Strand und viel Himmel das Gefühl hat, dort angekommen zu sein, wo es hingehört („die lange Reise ist vorbei“). In Anlehnung an biblische Vorstellungen beschreibt der gläubige Christ und fleißige Bibelleser Reiser, wie die Natur (Sonne, Wind und Regen) den Weinenden, Verzweifelten und Durstigen Trost spenden, wie sie sogar Tote auferstehen lassen kann. Rio Reiser hat mit „Land in Sicht“ ein Lied der Sehnsucht und der Hoffnung geschrieben.
Die erste Strophe des Songs beinhaltet die Beschreibung der erwähnten Glücksgefühle des lyrischen Ichs. Bereits bei der zweiten Strophe, also für einen Rocksong ungewöhnlich früh, handelt es sich um den Refrain, der die Wirkung der Landschaft und der Natur auf den Menschen beschreibt. Es folgt eine Strophe, die wieder zum lyrischen Ich zurückkehrt, das diesmal Wald, Strand und Himmel lobt.
Der Song ist im halben Kreuzreim geschrieben, der wie eine Wellenbewegung wirkt und das emotionale Auf und Ab zwischen Melancholie und Zuversicht zum Ausdruck bringt. Häufiges Metrum ist der in Rocksongs selten vorkommende Anapäst, ein Versfuß, der in der Antike in Marschliedern Anwendung fand und eine vorwärtsdrängende Stimmung vermittelt. Passend dazu endet jede Zeile mit einer männlichen Kadenz, Entschlossenheit transportierend.
Zeitenwende
Sprachlich ungewöhnlich ist die erste Zeile mit der Wortschöpfung „ins Herz singen“, ansonsten besticht der Song wie viele, die Rio Reiser geschrieben hat, durch sprachliche Einfachheit, die oft als naiv beschrieben wird. Und doch liegt unter dieser Einfachheit eine große Komplexität, die der charismatische Rio Reiser wie kaum ein anderer Sänger in Deutschland zum Ausdruck bringen konnte.
Denn der Song markiert nicht nur Reisers Wunsch, mehr als nur als ein Sprachrohr einer Bewegung wahrgenommen zu werden, er markiert auch eine Zeitenwende.
Als sich Rio Reiser mit seiner Band Ton Stein Scherben nach Friesland zurückzog, war in Berlin der antiautoritäre Aufbruch, für den auch Ton Stein Scherben standen, längst ins Dogmatische, ins Orthodoxe gekippt. Viele seiner ehemaligen Fans boykottierten die Band von nun an schmallippig als zu unpolitisch.
Am 20. August vor 25 Jahren ist der begnadete Autor und Rockstar Rio Reiser im Alter von 46 Jahren gestorben.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Tod von Gerhart Baum
Einsamer Rufer in der FDP-Wüste
+++ Nachrichten zur Ukraine +++
Gespräche bei der Sicherheitskonferenz
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Tabubruch der CDU
Einst eine Partei mit Werten