Studie zu Lockdowns: Die Rechnung mit dem Tod

Es sterben mehr Menschen durch Covid-19 als durch Lockdowns, zeigt eine neue Analyse. Nur: Sollte man Tote gegeneinander aufrechnen?

Eine Person schaut aus dem Fenster. Man sieht nur Schattierungen und dass die Person die Arme verschränkt hält

In vielen Ländern gab es einen oder mehrere Lockdowns. Nicht wenige fühlten sich allein Foto: Sebastian Wells

Durch Lockdowns sterben nicht mehr Menschen als durch Covid-19. Das ist das Ergebnis einer Analyse von zwölf Wis­sen­schaflte­r:in­nen, die Daten aus 94 Ländern ausgewertet haben. Auf den ersten Blick bietet die Studie die passenden Gegenargumente für Kri­ti­ke­r:in­nen des Lockdowns. Doch sollte man das Denkspiel, Tote gegeneinander aufzurechnen, mitmachen?

Die ­Wis­sen­schaft­le­r:in­nen gehen auf unterschiedliche Gründe ein, die dafür sorgen können, dass der Lockdown zu Toten führt. Da ist einerseits die Gesundheit, die durch Lockdowns gefährdet wurde, weil ­beispielsweise Krebsvorsorge­untersuchungen nicht eingehalten wurden; dann sind es Suizide; ebenso die Einschränkung globaler Gesundheitsprogramme, etwa gegen Malaria.

Gängige Argumente also, die von Lock­down­geg­ner:in­nen angeführt wurden. So äußerte beispielsweise der britische Politiker Nigel Farage im November, dass der Lockdown mehr „Lebensjahre“ koste als Corona selbst. Er bekam Zustimmung: Graham Brady, ebenfalls britischer Politiker, rechnete aus, dass die Zahl der Suizide um 50 Prozent steigen werde. Menschen, die Suizid begehen würden, wären nicht so leicht hinnehmbar, weil sie im Schnitt 37 Jahre alt seien und Coronatote um ein Vielfaches älter, meist 82 Jahre.

Die nun veröffentlichte Studie nimmt sich dieser gängigen Argumente an und klopft sie auf ihre Nachweisbarkeit ab. Dafür wurden Daten des World Mortality Dataset ausgewertet. Die wissenschaftliche Analyse zeigt: Es ist nicht so einfach, Tote gegeneinander aufzurechnen und die genauen Gründe für einen Tod zu klassifizieren. Manchmal sei beispielsweise nicht klar zu erkennen, ob eine Gesundheitsversorgung wegen eines Lockdowns unterbrochen war.

Es kann auch andere Gründe haben, die indirekt mit der Pandemie zusammenhängen. Die Wis­sen­schaft­le­r:in­nen verweisen darauf, dass es im Vereinigten Königreich mehr Krebstote während der Pandemie gab. Ob das daran lag, dass das Gesundheitspersonal von der Onkologie auf die Coronastation verlegt wurde, oder daran, dass wegen Lockdownmaßnahmen nicht genügend Menschen zur Krebsvorsorgeuntersuchung gingen, das lässt sich nicht immer klar nachvollziehen.

In Japan stieg die Suizidrate nach dem Lockdown

Das zeigt: Wer Farage und Co mit eigenen Denkmustern bekämpft, der:­die hat es nicht einfach. Zahlen, die für Klarheit sorgen, gibt es dann doch: Die Analyse greift Studien auf, die zeigen, dass „gängige Tode“ wie die durch Grippe oder Autounfälle während Lockdowns zurückgingen. Auch lässt sich keine Zunahme der Suizide während der Lockdowns feststellen. In Japan stiegen die Suizid­raten erst nach dem Lockdown und dem Anstieg der Arbeitslosigkeit.

Auch betonen die Wis­sen­schaft­ler:in­nen, dass im Zusammenhang mit den Lockdowns immer wieder von der psychischen Gesundheit die Rede sei, während die psychische Gesundheit im Zusammenhang mit dem Virus untergehe: „Das Fehlen der Schule wirkt sich eindeutig auf die psychische Gesundheit von Kindern aus, aber genauso der Verlust eines geliebten Menschen durch Covid-19“.

Erst am Dienstag wurde eine Studie im Fachjournal Lancet veröffentlicht, in der geschätzt wird, dass etwa 1,5 Millionen Kinder einen Elternteil wegen Covid-19 verloren haben. Susan Hillis, die die Studie leitete, erklärte, dass etwa alle zwölf Sekunden ein Kind ein Elternteil oder ein:e Be­treue­r:in wegen Covid-19 verliere. Vielleicht ist das das ultimative Argument gegen Lock­down­geg­ner:in­nen: Wenn verhindert werden kann, dass Kinder zu (Halb-)Waisen werden, dann sollte man nicht zögern.

Die Studie übers Sterben taugt für diese Argumentation sowieso nicht. Denn einerseits ist sie lückenhaft: Themen wie Vereinsamung, häusliche Gewalt oder langfristige Folgen von psychischen Erkrankungen wurden nicht analysiert. Andererseits gibt es bessere Methoden, psychische Erkrankungen durch Lockdowns ernst zu nehmen anstatt sie gegen Covid-19-Tote aufzurechnen.

Dafür braucht es eine Regierung, die sowohl die körperliche als auch die mentale Gesundheit der Bevölkerung ernst nimmt und berücksichtigt, die also auch im Lockdown dafür sorgt, dass genügend Frauenhausplätze zur Verfügung stehen, Unterkünfte für Obdachlose frei zugänglich sind, der Zugang zur psychologischen Betreuung erleichtert wird, die Präsenzpflichten von Schulkindern und Studierenden nicht anders behandelt als die der Ar­beit­neh­me­r:in­nen und Soforthilfen tatsächlich sofort ausgezahlt werden.

Wenn Sie Suizidgedanken haben, sprechen Sie da­rüber mit jemandem. Sie können sich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (0800/111 0 111, www.telefonseelsorge.de)

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