Italienfeindlichkeit in Deutschland: Weltmeister der Ressentiments
Bei der WM 2006 hielten sich viele Deutsche einen gesunden Patriotismus zugute. Doch ohne Rassimus kam er nicht aus, wie unser Autor erinnert.
Um 23.19 Uhr des 4. Juli 2006 hängen die Deutschlandfahnen wie schlaffe Zungen aus den Fenstern der deutschen Provinz. Schwarz-Rot-Gold sind die Farben des Sommers. Man trifft sie überall. Auf den Autodächern. Auf den VWs, auf den A4s. Die Fähnchen. Überall. Kein Schrebergarten-Cringe. Mainstream. Von den Hochhäusern bis in die Altbauten. Fähnchen auf den Fanmeilen. Auf den Baseball-Kappen. Auf den Nivea-Backen. Auf den „Weltmeisterbrötchen“. Auf den Grills. Bei Media-Markt. Das ganze Land: Schwarz-Rot-Gold.
„Deutschland ist der geilste Club der Welt“, schreien sie im Radio. Die ganzen vier Wochen brüllen sie mich an mit ihrem Scheiß-Schland. Ich hatte mich früh festgelegt. Einen Scheiß hatte ich. Das Italientrikot hatte ich geschenkt bekommen, da war ich acht.
Der Erste hatte mich einen „Scheiß-Itaker“ genannt, da war ich sieben. Ein Erwachsener, bei einem F-Jugend-Turnier. Am 4. Juli 2006 um 23.19 Uhr bin ich zwölf Jahre alt. Für den Vater, um den es hier eigentlich geht, ist Fußball nicht so wichtig.
Der Vater ist der eigentliche „Scheiß-Itaker“. Wenn die italienische Nationalmannschaft spielt, spielt sie immer für den Vater. Wenn die italienische Nationalmannschaft gewinnt, dann rächt sie meine Wut. Eigentlich meine Scham. Die Scham, dass der Vater die Sprache nicht beherrscht. Dass die anderen Väter mit dem Vater nicht reden. Dass der Vater keinen Schulabschluss hat. Dass ich den Vater trotzdem lieb hab.
Die Welt zu Gast bei Freunden
Einmal hatte ein Freund vom Gymnasium, der zu Besuch war, den Vater gefragt, was denn „Haus“ auf Englisch hieße und der Vater hatte einfach „cesa“ gesagt. Wie „casa“ mit Fantasie-Englisch-Akzent. Auf dem Kirchplatz ist die Bank das Tor. Der Boden steinig, meine Knie blutig. Die Svens und Dominiks brüllen mich an, wenn sie mich wieder auf den Stein geschubst haben. Der „Scheiß-Itaker“ soll endlich aufhören mit seinen „Scheiß-Itaker“-Schwalben. Der „Scheiß-Itaker“ mit seinem kleinen „Itaker-Pimmel“ soll sich mal nicht so anstellen. Am Ende schieße ich fast immer die meisten Tore. Nicht weil ich so talentiert wäre, die Svens und Dominiks sind einfach superschlecht.
Im Jahr 2006 ist die Welt zu Gast bei Freunden. Der Kaiser hatte das Sommermärchen nach Deutschland geholt, gekauft, was auch immer. Es wird seit Wochen geschwärmt. Von „unverkrampftem Patriotismus“. Von „Partypatriotismus“. Ich kicke die Schland-Fähnchen von den VW-Polos. Ganz unverkrampft. Ganz partymäßig.
In der deutschen Provinz der nuller Jahre bist du öfter mal der „Scheiß-Itaker“. Selbst wenn man’s dir nicht ansieht. Selbst wenn du keinen exotischen Vornamen hast. Selbst wenn du im katholischen Religionsunterricht sitzt. Selbst wenn ein Elternteil deutsch ist. Der „Scheiß-Itaker“ steht in etwa auf einer Stufe mit dem „Scheiß-Polacken“ und damit steht er natürlich noch tausendmal besser da als der „Scheiß-Türke“ oder der „Scheiß-Albaner“. Den „Scheiß-Syrer“ gab es 2006 in der deutschen Provinz noch nicht.
Der deutsche Onkel hatte mich manchmal mit seiner Familie zu Ausflügen mitgenommen. Im Sommer 2006 ging es in einen Tierpark. Auf der Autofahrt hatte er sich in Rage geredet. Über den italienischen Fußball. Ging es wirklich um den Fußball? Es ging drum, die Italiener waren unfair und böse und hinterlistig und alle Erfolge waren ergaunert. Durch fiese Fouls, geschundene Elfmeter und ganz viel Zeitspiel.
Der deutsche Onkel hatte angefangen zu schreien, drehte sich immer wieder zu mir um. Ich saß zwischen seinen Kindern in der Mitte der Rückbank, während der A4 mit 180 Richtung Tierpark donnerte. Schwarz-Rot-Gold, flatternd auf dem Autodach.
Zutritt für Hunde und Italiener verboten
Später, in Klasse 9, sollte eine Geschichtslehrerin im Unterricht sagen, die Italiener hätten gewissermaßen die Deutschen feige im Stich gelassen. Diesmal ging es nicht um Fußball.
Es ging um das Ende des Dreibunds (Anm. d. Red.: geheimes Defensivbündnis zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien) im Ersten Weltkrieg. Der deutsche Onkel hatte auf der Rückfahrt vom Tierpark immer „Carpaccio“ statt „Catenaccio“ gebrüllt, bevor er mich zurück ins „cesa“ brachte. Natürlich ging das als Itaker im Jahr 2006 noch ganz gut klar. In den 1960er Jahren war es schlimmer.
Da gab es Gaststätten mit Warnschildern: „Zutritt für Hunde und Italiener verboten“. Kein Scheiß. Zugleich: Stau vorm Gotthardtunnel. Italien, Urlaubsland Nummer eins. Pizza und Pasta, Bruschetta und Lambrusco, Dolce Vita, dies und das. Das deutsche Verhältnis zu Italien ist eines zwischen Fetisch und Herablassung.
Als Torsten Frings nach dem Viertelfinalsieg Deutschlands im Elfmeterschießen einem Argentinier aufs Maul haut, zeigen italienische Boulevardmedien die Fernsehbilder. Frings wird fürs Halbfinale gegen Italien nachträglich gesperrt. Die Tagesmutter, von der ich später eine Zeit lang nach der Schule betreut werde, trägt bei unserer zweiten Begegnung ein T-Shirt mit der Aufschrift „Lieber Dritter als Petze“.
Als im vereinten Nachkriegsdeutschland zum ersten Mal massenweise Menschen im ganzen Land mit ihren Fähnchen in Schwarz-Rot-Gold auf den Plätzen der Großstädte stehen, ist es Sommer 2006. Als im vereinten Nachkriegsdeutschland erneut zum ersten Mal massenweise Menschen im ganzen Land mit ihren Fähnchen in Schwarz-Rot-Gold auf den Plätzen der Großstädte stehen, ist es Oktober 2014.
Der laute Schrei
Sie nennen sich Pegida. Deutschland ist Fußballweltmeister. Um 23.19 Uhr am 4. Juli 2006 erschüttert ein Schrei die deutsche Provinz. Arne Friedrich klärt in der 119. Minute eine Ecke zu kurz. Andrea Pirlo spielt in die Gasse. Fabio Grosso zieht ab. Langes Eck, halbhoch, unhaltbar.
Der Zwölfjährige schreit so laut, dass es bis in die Altbauten hallt. Dass die Fähnchen von den A4s fliegen. Die Weltmeisterbrötchen erzittern. Der deutsche Onkel zusammenzuckt. Die Tagesmutter vor Angst erstarrt. Vielleicht brüllt er so laut, dass die Svens und Dominiks sich acht Jahre später bedroht im eigenen Land fühlen. Vielleicht auch nicht.
Um 23.19 Uhr des 4. Juli 2006 beschließe ich, mir den Namen Fabio Grosso auf die Brust zu tätowieren. Mein erstes Kind wird Fabio Grosso heißen. Ich werde gerne der „Scheiß-Itaker“ für alle sein. Ich werde Berlusconi vor dem Politiklehrer verteidigen, der mich jede Stunde höhnisch auf ihn anspricht. Ich werde die italienische Staatsbürgerschaft mit 18 annehmen und mit dem Fiat über den Brenner brettern. Italien-Fähnchen auf dem Punto. Grün-Weiß-Rot.
Am 4. Juli 2006 war ich bis dahin drei Mal in Italien. Die Sprache verstehe ich nicht. Aber mir hat einer gesagt: Fabio Grosso heißt übersetzt dicker Fabian. Ein paar Tage später ist Italien Weltmeister. Das ist cool, aber nicht mehr so wichtig. Mein Finale war der 4. Juli.
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